Der nette Junge von nebenan

Rezensiert von Sylvia Schwab · 21.09.2006
Ein Teenager ist in Oates' erstem Jugendbuch auf Identitätssuche. Er steht in einem Konflikt zwischen seinen Freunden und einem von ihm geschätzten Lehrer. "Sexy" ist die Atmosphäre des ganzen Buches. Joyce Carol Oates versteht es, die unsichtbare Dominanz der Sexualität im Alltag Jugendlicher sichtbar zu machen.
Sie ist ein Phänomen, die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates. Geboren 1938 als Tochter eines Arbeiters war sie eine hochbegabte und ehrgeizige Studentin, wurde Professorin an verschiedenen Universitäten, u.a. in Princeton, sie hat diverse Literaturpreise erhalten und ist Autorin zahlloser Romane, Thriller und Kurzgeschichten. Ihr großes Thema: Die Entzauberung des "amerikanischen Traums" durch Lebensumstände, in denen der Traum vom besseren Leben immer wieder zerstört wird durch psychische und körperliche Gewalt. Joyce Carol Oates hat in den letzten Jahren aber auch angefangen, für Jugendliche zu schreiben. Gerade ist "Sexy" auf Deutsch erschienen, ihr viertes Jugendbuch.

Dass Joyce Carol Oates mit über 60 Jahren ihren ersten Roman für Jugendliche schrieb, ist ebenso erstaunlich wie nahe liegend. Erstaunlich ist, dass sie, die sich mit ihren Thrillern ja schon häufig auf "Abwege" von der seriösen Literatur für Erwachsene begeben hatte, so lange damit gewartet hat. Nahe liegend ist dieser Wechsel zum Jugendbuch, weil auch in vielen ihrer bekannten Romane für Erwachsene Jugendliche und ihr Heranwachsen in komplizierten Familienstrukturen eine wichtige Rolle spielen.

In "Sexy" ist es Darren, der in einen tiefen Konflikt gerät. Darren ist 16 und schätzt seinen Lehrer Mr. Tracy sehr. Der verlangt viel von seinen Schülern, macht aber auch einen hervorragenden Literaturunterricht. Doch dann hecken Darrens Kumpel ein Komplott gegen Mr. Tracy aus, um sich für schlechte Noten zu rächen. Sie hängen ihm an, er sei schwul und habe kleine Mitschüler belästigt. Mr. Tracy bittet Darren mehrmals um eine entlastende Aussage, doch der zögert.

Darren ist der "nette Junge von nebenan", sympathisch, eher schüchtern, einer der gerne Spaß hat mit seinen Freunden, einer, der sich gerne raushält aus Schwierigkeiten. Einmal hat Mr. Tracy ihn im Auto nach Hause gebracht. Und nun soll Darren Partei ergreifen, entweder für den Lehrer, worum der ihn bittet, oder gegen ihn, was Polizei und Schulleitung nahe legen. Er muss den Lehrer verraten oder die Freunde – und entschließt sich, nichts zu tun. Erst als Mr. Tracy tödlich verunglückt, begreift Darren, dass er jetzt Stellung beziehen muss.

Joyce Carol Oates hat einen vieldeutigen Titel für ihren Jugendroman gewählt. "Sexy" ist zuerst einmal Darren selbst. Er sieht gut aus und ist sehr sportlich. Die Mädchen himmeln ihn an, obwohl er selbst voller Selbstzweifel und Hemmungen ist. Darren möchte gar nichts Besonderes sein, er möchte nur dazugehören.

"Sexy" ist aber auch die Atmosphäre des ganzen Buches. Darrens Phantasien und Träume, die Streitereien mit seinem Bruder und die Albernheiten mit den Freunden, und dann natürlich die Gerüchte und Untersuchungen um Mr. Tracy – das alles ist latent sexy, spannungsvoll aufgeladen mit unausgesprochenen sexuellen Bedürfnissen und Wünschen. Joyce Carol Oates versteht es hervorragend, diese unsichtbare Dominanz der Sexualität im Alltag der Jugendlichen sichtbar zu machen.

Einen atmosphärischen Gegenpol dazu bildet der Sport. Hier geht es um Training und Wettkampf, ums Gewinnen und Verlieren. Man hält zusammen – auch wenn man Blödsinn gemacht hat. Fairness gilt nur innerhalb der Mannschaft, hier ist kein Platz für Mitgefühl mit einem Lehrer, der ja eigentlich "selbst schuld" ist an den Verleumdungen gegen ihn.

Joyce Carol Oates schildert Darrens inneren Konflikt, der daraus entsteht, dass er nicht weiß, wie er sich im Fall Mr.Tracy verhalten soll, und seine zunehmende Fremdheit gegenüber den ehemaligen Freunden in knappen, kurzen Kapiteln. In kleinen Szenen, die nicht breit ausgemalt sind, sondern nur Schlaglichter werfen in Darrens Seelenleben und seinen Alltag. Einige dramatische Passagen – der Schwimmwettkampf oder das Gespräch mit dem Direktor – bieten dazu einen spannenden Kontrast.

Was das Buch besonders sympathisch macht: Es gibt kein Happy End, aus Darren wird nicht der große Held. Dazu ist er nicht gemacht, das wäre unglaubwürdig. Aber er hat etwas begriffen und weiß nun, wo er steht. J.C. Oates hat eine Identitäts- und Initiationsgeschichte geschrieben, wie sie überall möglich ist, auch in Deutschland.
Joyce Carol Oates: Sexy
Hanser Verlag, München 2006
Aus dem Amerikanischen von Birgit Kollmann
208 Seiten, 14,90 Euro
Die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates
Die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates.© AP Archiv