Der Musikschriftsteller Heinrich Eduard Jacob

Poetische Luftbilder

55:19 Minuten
Eine beschädigte schwarz-weiße Fotografie zeigt einen Mann mittleren Alters im Profil. Er hat dunkles, volles Haar, das nach hinten gekämmt ist.
Heinrich Eduard Jacob im Jahr 1938 in Wien. © IMAGO / United Archives International / Topfoto
Von Georg Beck · 12.03.2021
Heinrich Eduard Jacob (1889-1967) war einer der wichtigsten Musikjournalisten der Weimarer Republik. Er konnte aus dem KZ Buchenwald gerettet werden und emigrierte 1939. Nach dem Krieg schuf er geschliffen formulierte Musikerbiographien, u.a. über Haydn und Mendelssohn.
Heinrich Eduard Jacob, Sohn eines Bankdirektors, Jahrgang 1889, 1909 Matura am humanistischen Askanischen Gymnasium. Das großbürgerliche Milieu des assimilierten deutschen Judentums Berliner Provenienz.
1910 erster öffentlicher literarischer Gehversuch im "Neopathetischen Cabaret" wie die Abende des von Kurt Hiller begründeten "Neuen Clubs" hießen. Abende, über die Heinrich Eduard Jacob bald regelmäßig in der Charlottenburger Wochenzeitung "Herold" berichten wird.

Ein "Rauschbringer" sein

Ob er selbst Club-Mitglied geworden ist, ist unklar. Es gab Vorbehalte gegen sein forsch-naseweises Auftreten. Aber in jedem Fall war er ein treuer Zaungast und Reporter der Aktivitäten dieser expressionistischen Dichter-Selbstfortbildungs-Werkstatt, die noch unterm Berliner Vorkriegshimmel angefangen hatten, sich gegenseitig ihre Gedichte vorzulesen: darin – ein neuer Ton. Heinrich Eduard Jacob, kann man sich sicher sein, wird interessiert zugehört haben.
Heinrich Eduard Jacob will ein "Rauschbringer" sein: mit und im Geist von Oskar Wilde, Stefan George, Heinrich Mann, ja, sogar im Geist von Hugo von Hofmannsthal. Letzteres Bekenntnis trägt ihm neuerlichen Widerspruch ein in Hillers Clique, in der Hofmannsthal nichts weiter war als "das anerkannte Haupt der Neolibrettisten".

Der Ton des intellektuellen Städters

Andererseits: die von den Herren Hiller, Hoddis, Heym empfohlene Formung der inneren Erlebnisse des "intellektuellen Städters" plus Komparserie von Potsdamer Plätzen und Straßen plus Wetter und Wind, Wasser und Wald als zeichenbeladene Nebendarsteller. Dies hat er beherzigt und beibehalten, als er viel später seine Komponisten-Biografien schreibt, die Thomas Mann als "Künstler-Romane" tituliert.
Er wird über Mozart, Haydn, Mendelssohn und Johann Strauß schreiben. Bei schwächeren Autoren als Heinrich Eduard Jacob wäre daraus Kitsch entstanden, hätte sich verläppert in Anekdoten, wäre untergegangen in der Groschenromanfalle.

Dem Meister Mendelssohn

Im Jahr 1959 erscheint: "Felix Mendelssohn und seine Zeit. Bildnis und Schicksal eines Meisters". 1959 – das ist Mendelssohn-Jahr, 150. Geburtstag. Nur eben, der Jubilar liegt am Boden. Seine Denkmäler zerbrochen, der verhängte Bann über den Komponisten, Musiker ungebrochen. Zumal im westlichen Nachfolgestaat des Dritten Reiches ist es ein ziemlich unkalkulierbares Risiko, daran zu erinnern, an den Verrat an Mendelssohn zu erinnern.
Porträt von Felix Mendelssohn Bartholdy mit großem welligen Haar und direktem Blick zum Betrachter in einer Illustration von Johann Joseph Schmeller.
Das Werk von Felix Mendelssohn Bartholdy, dessen Aufführung von den Nationalsozialisten verboten wurde, war Heinrich Eduard Jacob besonders wichtig.© IMAGO / Leemage
1959 ist so ein Buch mehr als nur Literatur, es ist ein Akt der Furchtlosigkeit, des Mutes, vielleicht auch eines Mutes der Verzweiflung. Anders als eine verstockte deutsche Musikologie, verstrickt in den bürgerlich nachlebenden Nazismus, verschweigt Jacob nicht, was er Mendelssohns "Schicksal" nennt.
In zwei Schlusskapiteln – "Der Schuss aus dem Dunkel" und "Das Unfassbare" – legt der Autor den Finger in die Wunde, ruft die Amputation noch einmal ins Gedächtnis zurück.

In herzlicher Abneigung verbunden - Brecht

Ein Atelierfest bringt sie auf Tuchfühlung, Heinrich Eduard Jacob und den dichtenden Baal-Anhänger aus Augsburg. Brecht schlägt Anfang der zwanziger Jahre in der Reichshauptstadt auf und sucht Kontakte zur Szene. Heinrich Eduard Jacob, Herausgeber des "Feuerreiter", druckt Brecht, darunter seine Novelle "Ein gemeiner Kerl", die "Ballade von des Cortez Leuten" - was aber nichts daran ändert, dass man sich wechselseitig in herzlicher Abneigung verbunden bleibt.
Ein junger Mann in weißem Anzug schaut ernst in die Kamera.
Bertolt Brecht, hier 20-jährig.© picture-alliance / dpa
Es gibt aber auch ein Leben ohne Brecht! Berlin ist groß und hält für ein Berliner Gewächs wie Heinrich Eduard Jacob in den nun Fahrt aufnehmenden zwanziger Jahren, den goldenen, so einiges bereit.
Sein Wort-Schmelztiegel war, im Prinzip, immer in Betrieb. So lang es die politischen Umstände gestatteten, hat er ein Buch, eine Erzählung, einen Artikel nach dem anderen aus seiner Textmanufaktur entlassen, ob als Herausgeber der literarischen Zeitschrift "Der Feuerreiter", ob als Mitarbeiter, als späterer Wiener Chefkorrespondent des "Berliner Tageblatts" oder als Autor unter eigener Flagge.

Das letzte Konzert

Seine Novelle "Untergang von dreizehn Musiklehrern" aus dem Jahr 1924 ist eine Erzählung, die die Musik nicht nur in der Überschrift führt, die sich vielmehr selbst schon in den ersten Sätzen, schon von Anfang an wie ein musikalischer Satz vorträgt. Es gibt in dieser Untergangs-Erzählung ein letztes Konzert. Noch einmal tritt das Orchester zusammen. Allerdings – es kommen auch die Toten, auch die Gefallenen spielen mit. Ein letztes Konzert wie der Fiebertraum eines Moribunden.
Und den Menschen Heinrich Eduard Jacob – was rettet ihn in dieser Situation? Eine Einladung nach Italien. Neapel, Rom bringen, wie er schreibt: "seelischen Luftwechsel", die Erfahrung des Südens hilft ihm, die "megamythischen Sommer- und Herbsttage von 1923" zu überwinden.

Mit der Heiterkeit des Südens

Der Depression seiner Untergangs-Novelle setzt er mit "Jacqueline und die Japaner" eine Novelle der schönsten Heiterkeit entgegen. Die Berliner Börsen-Courier-Rezension bejubelt die "musizierende Leichtigkeit des Geistes". Und wieder steht ein Musiker, ja ein Komponist im Zentrum. Nur, dieses Mal ist alles aus der Erinnerung erzählt – das Leiden ist Geschichte, ist gewesen, vergangen, der Ich-Erzähler blickt zurück auf 1923.

Dachau und Buchenwald

Am 22. März 1938, elf Tage nach dem "Anschluss" Österreichs an ein "Großdeutsches Reich", wird Jacob in der Wiener Wohnung seiner Verlobten Dora Angel-Soyka von der Gestapo verhaftet, in der Polizeikaserne Rossauer Lände in "Schutzhaft" genommen, in der Nacht auf den 1. April 1938, zusammen mit 150 anderen prominenten Regimegegnern und höheren Beamten des gerade angeschlossenen, also untergegangenen Staates ins KZ Dachau transportiert.
Vor allem Dora Angel-Soyka, die Verlobte Jacobs und deren Familie tun, was sie können. Doch erst einmal wird es noch schlimmer. Am 22. September 1938 wird er zusammen mit 1200 anderen Häftlingen in Dachau ausgemustert. Auf seine Karteikarte wird mit rot ein großes "B." gemalt, die neue Destination: Buchenwald. Block X, Häftlingsnummer jetzt 8279. Wieder schwerste Arbeit, Misshandlungen. Auf dem Appellplatz bricht er zusammen.

Rettung und Exil

Dann tatsächlich das Wunder. Jacob bekommt ein Affidavit, kann das KZ Weimar-Buchenwald verlassen. Dora, die Verlobte, nimmt ihn am Wiener Bahnhof in Empfang – ein Schock für sie: "Als ich am 11. Februar 1939, einen Tag nach seiner Entlassung aus dem KZ Buchenwald, meinen damaligen Verlobten, Heinrich Eduard Jacob, wiedersah, vermochte ich ihn kaum zu erkennen. Er war zum Skelett abgemagert und ging völlig gebückt. Seine Haltung war fast waagerecht zur Erde."
Die Haft bleibt als Trauma. Nie wieder wird sich Heinrich Eduard Jacob davon ganz erholen. Schlaflosigkeit, Angstattacken Dauerbegleiter. Und so, als Gezeichneter, geht er am 14. Juli 1939 im New Yorker Hafen von Bord der "Aquitania", womit von jetzt auf gleich eine ganz neue Zeit beginnt.

Drei Lebensmittel: Brot - Freiheit - Heiterkeit

Jacob tritt ein in eine Welt, die sich nicht darum schert, was ihm und Zehntausend anderen passiert ist. Für Jacob geht es in einen neuen Kampf: ums Überleben. Im amerikanischen Exil schreibt er drei große Bücher: Jedes kreist um ein Lebensmittel, das der Mensch braucht, auf das er gar nicht verzichten kann – zuallererst das täglich Brot. Also schreibt er "Six Thousands Years of Bread" – "Sechstausend Jahre Brot", das große Sachbuch, das bis heute mit Jacobs Namen verbunden ist. 1944 ist es auf dem amerikanischen, 1954 auch auf dem deutschen Buchmarkt.
Das zweite Lebensmittel, dem Jacob ein Buch widmet, ist die Freiheit. Er sieht sie zuerst, wie alle anderen Amerika-Einwanderer, groß und erhaben auf Liberty Island vor sich stehen: die von Frankreich geschenkte Statue mit der Torch of Freedom in der Hand.
Großaufnahme des Kopfes der Frauenstatue, und im Hintergrund ihre Hand, die die Fackel trägt.
Statue of Liberty in New York City, an der auch Heinrich Eduard Jacob vorbeifuhr.© IMAGO / Science Photo Library
Im Sockel des Denkmals ist ein Gedicht eingelassen: "The New Colossus" von Emma Lazarus, einer jüdischen amerikanischen Dichterin, deren erste Biographie geschrieben wird von dem vertriebenen Berliner Juden Heinrich Eduard Jacob: "The World of Emma Lazarus".
Und das dritte, letzte, allzu lang entbehrte Lebensmittel, dem Heinrich Eduard Jacob noch in seinem amerikanischen Exil eine Publikation widmet, ist die Heiterkeit – die Heiterkeit in Klanggestalt. 1950 geht diese Liebeserklärung in den Druck: "Joseph Haydn – His Art, Times, and Glory".
Ein anonymes Gemälde aus dem Civico Museo Bibliografico Musicale in Bologna zeigt Joseph Haydn mit einer Feder in der Hand
Der österreichische Komponist Joseph Haydn (1732-1809) auf einem Gemälde aus dem Civico Museo Bibliografico Musicale in Bologna© imago images / Leemage
Zu den ersten Lesern, ersten Bewunderern gehört Thomas Mann, der auch ein Geleitwort beisteuert, darin von einem "bezaubernden Künstler-Roman" schwärmt. Er erscheint 1952 im Hamburger Wegner Verlag auf Deutsch "Joseph Haydn: seine Kunst, seine Zeit, sein Ruhm".
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