Der Mensch und seine Vergänglichkeit

26.01.2007
Ein schmales Bändchen, ein sanfter Titel - man könnte auf die Idee kommen, eine anmutige Lektüre vor sich zu haben. Und hätte sich geirrt. In Péter Nádas Ortsbestimmung geht es um nicht weniger als die menschliche Existenz, um Leben, Vergänglichkeit und Tod. Es geht um ihn und um uns, die wir wie Staubkörner angeweht und wieder verweht werden - mit kurzem Erd-Aufenthalt.
Zwei Berichte, so heißt der Untertitel des Buches. Im ersten Bericht erzählt Nadas von der Landschaft, in der er lebt und von den Menschen, die dort seine Nachbarn sind. Eine archaische Gesellschaft. Ziemlich unberührt von den so genannten Segnungen des so genannten Fortschritts. Bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es keinen Strom. Und bis heute keine Eisenbahnlinie. Dank der katholischen Kirche. Wenn man es denn Dank nennen möchte. Denn diese beharrte im 19. Jahrhundert darauf, dass keine Eisenbahn gebaut werden dürfe, "in der Hoffnung auf die Wahrung der sittlichen Ordnung."

So blieb man abseits und wurde eigentümlich, blieb tief verwurzelt in Tradition und gelebten Riten, dachte nicht daran, sich von alten Gebräuchen und alten Göttern zu verabschieden: "Außer dem Wissen des Dorfs gibt es kein Wissen." Eine Gesellschaft, in der Nádas fremd bleibt und dennoch bleibt. Weil sie ihn faszinieren, diese Menschen, die so anders denken und reden und schweigen.

Weil ihn die Magie des Ortes hält. Der Wildbirnenbaum, auf den er aus seinem Fenster schaut und unter dem die Einwohner des Ortes sich in heißen Sommernächten einst versammelten, um zu singen, zu reden oder einfach in der Kühle der mächtigen Laubkrone zu sein. Menschen, deren Wir-Bewusstsein ganz unreflektiert gelebt wird. Beruhend auf einem tausendjährigen Wissen, von dem Nádas – und das macht ihn froh - noch etwas erfahren konnte und das er nun weitergeben möchte. An uns Leser. Es ist, als wolle er sagen: Der Mensch ist ohnehin vergänglich, aber wenn das Wissen sich verliert, dann geht der Menschheit etwas verloren.

Über den vergänglichen Menschen erzählt auch der zweite Bericht. Der eigene Tod hat Nádas ihn betitelt. Der Tod, dem er selbst knapp entkam. Und den er nun detailgenau protokolliert, den Abschied schildert. Keineswegs ein Moment der Verzweiflung, sondern eher der Erfüllung. Doch zunächst sind wir bei der Atemnot, den Schweißausbrüchen, der Enge in der Brust, der Angst, der Disziplin, der "leidenschaftlichen" Leugnung dessen, was der Körper so unmissverständlich offenbart. Er beschreibt den kreatürlichen Zustand und den intellektuellen. Der Kopf betrachtet den Leib. Ein zweigeteilter Mensch.

Der Tod kommt näher. Und es geschieht "Phantastisches", ein "Allerlebnis", wie Nádas es nennt. "Mein Geist war wacher als je zuvor." Ungebunden an Zeit und Raum, gerät er in einen Zustand des reinen Denkens, der "unendlichen Verzückung", nach der er sich immer gesehnt, die er so nie erlangt hat. Nicht das Vergehen in der Sexualität ist Erfüllung, die Erfüllung ist der Tod.

Mancher Dichter hat diesen Moment schon besungen - Todes-Lust ist keine Entdeckung von Nádas. Aber die fast buchhalterische Präzision, mit der er das Erlebnis beschreibt, bannt den Leser, der zum Begleiter wird auf dieser Reise. Das Leben wird zur jämmerlichen Schattenwelt, das Sterben zur Ekstase oder besser gesagt zu einem nie erfahrenen Gefühl- nicht Freude, nicht Schmerz, eher eine euphorische Grenzenlosigkeit des Geistes und der schöpferischen Kraft, befreit von Erdenschwere.

Fast liest sich die Sterbensbeschreibung wie eine religiöse Erweckung. Und doch erklärt Nádas: "Gott ist in der Totalität der Zeit nicht zu entdecken." Tastend sucht er das Eingehen ins Jenseits in diesseitige Worte zu fassen. An jeder Zeile meißelnd. Endend in der Symbiose von Geburt und Tod. Ein hoher Ton und sorgfältig genau. Fast sehnsüchtig ist der Blick zurück und grau auf das Leben jetzt. "Nachdem jemand gewaltsam zurückgeholt worden ist, geht ihn nichts mehr etwas an."

Bedauerlich, dass er hier abbricht. Nichts berichtet von der Lebens-Erfahrung nach der Todes-Erfahrung. Ob sich das Denken verändert hat, das Fühlen, die Liebe, das Schreiben. Ob es Lust gibt nach der Verzückung. Vielleicht schreibt er ja auch darüber noch.

Rezensiert von Gabriele v. Arnim


Péter Nádas: Behutsame Ortsbestimmung
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer.
Berlin Verlag 2006, 80 Seiten, 16 Euro