Der letzte Sommer in der DDR

26.05.2013
"Schneckenmühle" ist eine Coming-of-Age-Geschichte über den 14-jährigen Jens, seinen Ostalltag, über die Warenwelt und die Diskrepanz zwischen Westfernsehen und Ostrealität. Eine gedankliche Exkursion eines zufriedenen Jünglings, der nur den einen Wunsch hat - dass die Zukunft lange nicht kommen möge.
Jochen Schmidts Roman "Schneckenmühle" ist einer jener Coming-of-age-Stoffe, die seit Salingers "Fänger im Roggen" und zuletzt Wolfgang Herrndorfs "Tschick" zu Lieblingsbüchern des Publikums wurden. Schmidt erzählt eine kleine Geschichte über die Zeit des 14-jährigen Jens in einem ostdeutschen Ferienlager. Immer ist in solcherart Büchern Sommer, und immer sind Ferien. Es passiert nichts Besonderes, und doch verändert sich in diesen Wochen nicht nur die Welt, sondern auch das Innenleben des Erzählers. Denn es ist der Sommer 1989, was aber nirgends steht. Erst ganz am Ende des Buchs taucht Ungarn auf - als Wassermelonen und Danone-Joghurt.

Jens, ein schein-naiver 14-jähriger Denker, setzt die Ironie in seinen Selbstgesprächen leichtfüßig ein, was Schmidt mit feinem Witz erzählt. Der Junge reflektiert über Gott, Liebe, Freiheit und andere gravierende Sachen und gibt auf die großen Fragen mit der größten Selbstverständlichkeit urkomische, sensible und sinnfällige Antworten. Und das alles in dem herrlich unverkrampften Jochen-Schmidt-Sound.

Der Autor ist nie klüger als der Junge, den er beschreibt, er verlässt weder dessen Sprache, noch den Horizont des aufgeweckten, ziemlich sorgenfreien Schülers. Aber das allein würde die Qualität des Romans nur sehr undeutlich kennzeichnen. Das Bestechende ist die Vorstellungskraft von Jens. Nichts ist abgedroschen, was der Junge denkt und besonders schön - und komisch - ist es, wenn er sich ins Unbestimmte hineinfantasiert. Die Fiktion packt er in die Welt, die sich der ehrgeizresistente Zögerer im Kopf zusammenbaut, manchmal berührt von Ängsten, meist aber erfasst von der schieren Neugier und einer unbewussten Vorfreude. Jens ist ein leidenschaftlicher, glücklicher Beobachter, ein "Bastler", "allerdings", so der Kommentar, "nur in der Theorie". Ist er ein Faulpelz? Auf jeden Fall genügsam.

"Schneckenmühle" ist ein Buch über einen Jugendlichen, den Alltag der DDR, über die Warenwelt, die Konsumartikel, die Diskrepanz zwischen Westfernsehen und Ostalltag, zwischen westdeutschen Verwandten und der täglichen Wirklichkeit. Man kennt das ja schon alles, aber hier ist es anders. Hier wird der Blick ganz ruhig nah herangeführt, nichts wird dämonisiert oder dramatisiert, alles ist, wie es ist, ob das "Honni" (Honecker) betrifft oder den christlichen Glauben. Auch die kleine Liebes- und Tapferkeitsstory kommt ohne jedes "Schau-wie-ich-das-Kann" aus.

Der in der Zeit, dem Land und in seinem Alter bestens aufgehobene Jens erzählt im letzten Sommer der DDR über indirekte Ideologien und Routinen. "Schneckenmühle" gibt Einblick in den Kopf eines ungezwungenen und kein bisschen altklugen, vor sich hin philosophierenden Jungen. Gedankliche Exkursionen eines zufriedenen Jünglings, der nur den einen Wunsch hat, dass die Zukunft lange nicht kommen möge. Aber die Zukunft kennt ja bekanntlich kein Pardon.

Besprochen von Verena Auffermann

Jochen Schmidt: Schneckenmühle
C.H. Beck Verlag 2013
220 Seiten, 18,50 Euro
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