Der Leser als zappelnder Fisch

Von Tobias Wenzel · 17.04.2009
"Im pietistischen Südnorwegen aufzuwachsen hat mich sehr geprägt, aber mir nicht geschadet", sagt die graue Eminenz der norwegischen Literatur, Kjell Askildsen. Er wuchs in einer Gegend auf, in der damals das Bier verboten war und die Hälfte der Bevölkerung streng gläubig war. Jetzt ist auf Deutsch ein Erzählband des Norwegers erschienen.
Kjell Askildsen: "Ich bin nicht so, ich bin nicht so. Ich ging die Treppe hinunter in einem vierstöckigen Mietshaus weiter östlich in der Stadt; ich hatte meine älteste Schwester besucht, es war unerfreulich gewesen, sie hatte zu viele Probleme, die meisten eingebildet, aber das macht es ja nicht besser."

Kjell Askildsen, ein 79-jähriger ganz in schwarz gekleideter schlanker Mann, schmales Gesicht, starke Brillengläser, liest den Beginn seiner Erzählung "Ich bin nicht so, ich bin nicht so". Der Ich-Erzähler mag seine Schwester nicht und auch sie ihn nicht besonders. Sie kennen die Schwächen des jeweils anderen nur zu gut, rühren bewusst in Wunden oder denken nur darüber nach, es zu tun. In vielen Erzählungen des Norwegers begegnen wir ebenso knappen wie beklemmenden Dialogen von Mann und Frau, meist Eheleuten. Das Nichtgesagte sagt hier viel:

Kjell Askildsen: "Ich interessiere mich für das Menschliche, für verbotene Zonen im Menschen. Die findet man nicht in dem, was Menschen sagen, sondern darin, wie sie sich im Ganzen ausdrücken, in ihrer Haltung und auch in ihrer Art, Pausen zu machen."

Eine Frau betrinkt sich, um vor den Augen ihres Mannes mit anderen Männern anzubandeln. Eine andere Frau fürchtet sich vor einer Gestalt, die sie draußen erblickt, ohne zu wissen, dass es ihr Mann ist. Ein Mann zuckt in einer weiteren Geschichte bei der Berührung seiner Frau zusammen, weil er glaubt, sie könne ihm etwas antun.

Manchmal kommt kurz die unterdrückte sexuelle Lust auf. 1953 veröffentlichte Kjell Askildsen seinen ersten Erzählband, in dem man erotische Passagen findet. Ein Skandal in Askildsens Geburtsstadt Mandal und überhaupt im pietistischen Südnorwegen. Das Buch wurde aus den Bibliotheken verbannt, erfuhr aber schnell eine zweite Auflage.

Kjell Askildsen: "Ich hatte das Buch meinem Vater und meiner Mutter geschenkt. Ich wohnte damals in einem Nachbarort von Mandal. Mein Vater kam mir im Auto entgegen und hielt an. Mein Vater arbeitete beim Ordnungsamt und war Mitglied in christlichen Organisationen. Er kurbelte das Fenster herunter. Er sagte: 'Ja, Kjell, ich danke dir für das Buch. Aber du sollst wissen: Ich habe es verbrannt!"

Heute gilt Kjell Askildsen als Meister der kleinen Form und wird längst nicht mehr nur in Norwegen verehrt. Er schreibt nie über eigene Erlebnisse, behauptet er zumindest, entwickelt seine Erzählungen nur ausgehend von einem Bild, ohne zu wissen, wie die Geschichte enden wird. Vielleicht wäre sein eigenes Leben in einer Erzählung auch zu unglaubwürdig:

Kjell Askildsen: "Ich kam 1950 mit der so genannten Deutschland-Brigade in die englisch besetzte Zone. Unser Hauptquartier war in der Stadt Schleswig. Ich heiratete auf dem Papier eine deutsche Frau, die eigentlich mit meinem besten Freund verlobt war. Damals war es aber deutschen Frauen unmöglich, ohne Heirat nach Norwegen zu gelangen.

So groß war die Wut auf die Deutschen. Die Eltern meines Freundes verboten ihm, die Frau zu heiraten. Also habe ich sie auf dem Papier geheiratet, weil ich sie für ein gutes Mädchen hielt. Dann habe ich mit ihr einige Zeit verbracht und sie richtig geheiratet. Seitdem war ich immer wieder bei ihren Verwandten in Schleswig."

Eigentlich spricht er deshalb gut Deutsch. Aber er möchte Interviews auf Norwegisch geben, um präziser sein zu können. Genauigkeit ist ihm äußerst wichtig, beim Reden und beim Schreiben. Eine Genauigkeit, die immer wieder, bei all der bedrückten Stimmung in den Erzählungen, Platz für Komik lässt. Eines von vielen Mitteln, mit denen Kjell Askildsen das Interesse der Leser wach hält. Kjell Askildsen gestikuliert stark, beugt sich zurück und wirft eine imaginäre Angel aus.

Kjell Askildsen: "Als Autor kann ich von meinen Lesern nichts erwarten. Ich möchte aber dafür sorgen, dass sie meine Erzählung zuende lesen Als Autor bin ich eine Art Angler. Ich werfe meine Rute aus und möchte den Leser an den Haken bekommen. Und dann muss ich die Angelschnur einholen, ohne dass der Leser sich vom Haken löst. Bei einer gelungenen Erzählung soll der Leser einem Fisch gleichen, der an Land verzweifelt zappelt."