Der lange Weg zur Integration

Rezensiert von Serdar Günes · 11.08.2013
Nicht den Muslimen, sondern den christlich geprägten demokratischen Gesellschaften wirft der Politologe Kai Hafez Intoleranz vor. Er erwartet, dass sie sich auf ihre liberalen Werte besinnen und Konflikte mit dem Islam in einem offenen Dialog lösen. Ein leidenschaftliches Buch mit Tiefgang.
Themen wie Migration, Religion und vor allem Islam enthalten politischen Zündstoff. Kurz und prägnant drückt Kai Hafez dies schon mit dem Untertitel seiner Analyse aus: "Freiheit, Gleichheit und Intoleranz".

Nur anders, als der Leser vielleicht erwarten würde, nimmt er sich nicht die Intoleranz der Muslime vor, sondern der europäischen, christlich geprägten Gesellschaften. Gerade die von sich so überzeugte liberale Demokratie verstünde es nicht, den Konflikt mit der ihr fremden Religion Islam zu entschärfen.

"Der Islam gehört zu Deutschland" ist bisher eine schön klingende Metapher geblieben, die wie ein Stein ins Wasser geworfen Wellen geschlagen hat, aber im Fahrwasser von Sarrazin eher Protest denn Empathie erzeugte.

Die Erwartungen, dass sich der christlich-jüdische zu einem Dialog mit dem Islam entwickeln müsse, lassen sich zwar sachlich heute in bestimmten Kreisen diskutieren, aber um diese zu finden ist ein Vergrößerungsglas nötig. Ein Fall von vielen, der eine liberale Gesellschaft, die sich durch Toleranz, Freiheit und Gleichheit definiert, auf die Probe stellt.

Und sie bestehe die Probe nicht, weil sie an ihren eigenen Ansprüchen scheitere, liberal und tolerant zu sein. Der Politologe, der auch Historiker und Islamwissenschaftler ist, prüft die Rolle des Islam im westlichen Denken über mehrere Kapitel hinweg: "Recht und Politik", "Gesellschaft", "Medien", "Wissenschaft und Bildung" und "Kirche".

Er konfrontiert die Ideale der Liberalität, der Demokratie und des Rechtsstaates mit der Verfassungswirklichkeit in den Ländern Europas, zeigt Widersprüche und Ambivalenzen im Verhalten gegenüber dem Islam auf. Obschon Forschungsergebnisse belegen würden, dass sich europäische Muslime gegenüber Staat und Gesellschaft sehr loyal verhielten und sich nur selten intolerant oder fundamentalistisch äußerten.

"Einwanderer mögen versuchen, so viel wie möglich von ihrem 'way of life' in die neue Situation hinüberzuretten, sie mögen sogar einen 'Kulturschock' erleiden, aber all dies ist von der liberalen Demokratie gedeckt und gehört zu den Freiheiten des Menschen im politischen System der liberalen Gesellschaft. Insgesamt gibt es überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass die Muslime Deutschlands oder Europas einen gesteigerten staatsbürgerlichen Integrationsbedarf besitzen."

Es liege eben nicht allein an den Muslimen, wenn eine islamfeindliche Abwehrhaltung in den europäischen Gesellschaften entstanden sei.

"Man erkennt, dass [...] als real und dringlich bezeichnete sozioökonomische Integrationsprobleme nicht nur durch die Integrationsverweigerung der muslimischen Minderheit, sondern auch durch die Aufnahmeblockaden der Mehrheitsgesellschaften inner- wie außerhalb von Krisenzeiten verursacht werden."

Die christliche Mehrheitsgesellschaft habe durchaus nötig, sich ihren Nachbarn anderen Glaubens zu öffnen, allein schon um ihrer selbst willen, um dem eigenen Anspruch gerecht zu werden.

"Gesucht wird nach der Verbindung zwischen den im Ansatz der 'liberalen Demokratie' angelegten Möglichkeiten sowohl zu individueller Freiheit als auch zu kollektiver Orientierung."

Kai Hafez entlarvt nüchtern, warum der Islam schon lange in Europa anwesend ist, aber immer noch als eine Religion angesehen wird, die nicht dazugehört. Er erwartet von der demokratischen Gesellschaft, dass sie sich auf ihre liberalen Werte besinnt und lernt, echte oder vermeintliche religiöse Konflikte mit dem Islam durch einen offenen Dialog zu lösen.

"Erstens: Die Anerkennung von religiösen Minderheiten ist Teil einer weitergehenden politischen und sozialen Emanzipation westlicher Politik und Gesellschaft. […]

Zweitens: Islamfeindlichkeit und fehlende kulturelle Anerkennung sind nicht Anzeichen des Versagens der 'liberalen Demokratie'; ihre Ursachen sind in den Unzulänglichkeiten der Werteordnungen in den europäischen Gesellschaften zu suchen, die Multikulturalität und religiöse Diversität nicht hinreichend akzeptieren. […]

Drittens: Diese Defizite können nicht allein durch Macht- und Wirtschaftsreformen oder erzieherische Appelle beseitigt werden; vielmehr bedarf es gesellschaftlicher, dialogischer Aktivitäten, um politisches, sozioökonomisches und kulturelles Versagen zu überwinden."


Kompakte Informationen und der Quellenreichtum machen das Buch zu einer aufklärerischen Lektüre, die analytischen Tiefgang und Leidenschaft bietet. Muslime, so Kai Hafez, müssten nicht Fremdkörper bleiben, sondern könnten Avantgarde einer liberalen, demokratischen Gesellschaft werden.

"Für die Muslime, gleich ob sie religiös, hochreligiös oder atheistisch orientiert sind, stellt sich die Frage, wie sie mit der gegenwärtigen Lage umgehen sollen. Welchen Weg sollen sie wählen: Anpassung, Abschottung oder sollen sie für politische, gesellschaftliche und kulturelle Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft werben? Assimilation und Segregation, das lehrt die Geschichte, schützen religiöse Minderheiten nicht vor Diskriminierung und gewaltsamen Übergriffen in Krisenzeiten, sie sind also keine probaten Strategien für das 21. Jahrhundert. Was bleibt, ist die Suche nach 'Anerkennung', nach 'Verbindung durch Konflikt'.

So seltsam es klingen mag, da man sich daran gewöhnt hat, die Rückständigkeit der Muslime Europas zu betonen: Durch eine gelungene Form der gesellschaftlichen Partizipation könnten sie sogar zur Avantgarde einer neuen globalen Emanzipationsbewegung werden."


Cover: K. Hafez "Freiheit, Gleichheit und Intoleranz" (Lesart)
Cover: K. Hafez "Freiheit, Gleichheit und Intoleranz" (Lesart)© Promo
Kai Hafez: Freiheit, Gleichheit und Intoleranz - Der Islam in der liberalen Gesellschaft Deutschlands und Europas
transscript Verlag Bielefeld, 2013
376 Seiten, 29,80 Euro
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