Russlands langer Schatten in Georgien

Die Jungen rebellieren

Protest gegen Drogenrazzien in zwei populären Clubs in der georgischen Hauptstadt Tiflis am späten Abend des 13.05.2018: zahlreiche junge Menschen und einige Polizisten stehen vor dem Parlamentsgebäude.
Nach Drogenrazzien protestieren Raver am 13.05.2018 vor dem georgischen Parlament. © AFP / Vano Shlamov
Von Thielko Grieß · 13.08.2018
Junge Aktivisten in Georgien vernetzen sich im Internet und auf der Straße bei Techno-Raves: Sie protestieren gegen die wachsende Einflussnahme Russlands - und gegen die eigene Regierung, von der sie sich gegängelt fühlen.
Ein sommerlicher Nachmittag in Tiflis. Die 21 Jahre alte Aktivistin Iro und ihre Freunde sitzen in einer Altbauwohnung auf Sofas um einen großen Wohnzimmertisch herum. Sie vertiefen sich in ihre Laptops und Smartphones, geöffnet sind Facebook, WhatsApp und verschiedene Nachrichtenseiten. Ladekabel kreuzen das Blickfeld und ein paar Zigarettenschachteln liegen herum.

Online-Kampf gegen Propaganda

Sie haben als Kampfplatz gegen russische Propaganda das Internet ausgemacht und versuchen nun täglich viele Stunden lang, diese zu entlarven und zu korrigieren: "Für mich ist heute die russische Propaganda das größte Problem. Weil sich nichts verbessert, bis wir kapieren, dass es alles eine Lüge ist, und dass sie versuchen, uns mit falschen Informationen zu überziehen."
Das Schicksal Archil Tatunaschwilis hat Georgien in Aufruhr versetzt und beherrschte wochenlang die Fernsehnachrichten. Es hängt auch mit dem Krieg zwischen Georgien und Russland zusammen, doch dazu später.
Der 35-jährige ehemalige Soldat war im Februar dieses Jahres in die Hände südossetischer Sicherheitskräfte gelangt und kurz nach seiner Festnahme dort ums Leben gekommen. Die südossetische Seite, die die Todesursache wohl auch in Moskau untersuchen ließ, sprach von einem Herzstillstand und Verletzungen bei einem Fluchtversuch. Die sterblichen Überreste Tatunaschwilis sind seinen Angehörigen erst Wochen später ausgehändigt worden, jedoch fehlten dem Leichnam einige Organe. Die georgische Seite geht von Folter aus.

"Ein Wort sagt alles: Besatzung"

Für die Studentin Iro Tsagareischwili war angesichts dieser Nachrichten das Fass zum Überlaufen gebracht worden. Sie kannte den Toten nicht persönlich. Aber der Aufschrei in Georgien war ihr nicht laut genug: "Aus meiner Sicht, aus der Sicht der Aktivisten, tut unsere Regierung gar nichts." Also rief sie Anfang März mit Mitstreitern zu einer Demonstration in Tiflis auf, deren Motto "Frieden ist größer als Krieg" war:
"Bis zu 5.000 oder 6.000 Menschen kamen. Und bis zu 70 Bars, Restaurants und andere Geschäfte haben aus Solidarität mit unserer Kundgebung geschlossen. Aber, nun, das war nur eine Kundgebung. Seitdem hat sich nichts verbessert." Sie meint den Einfluss Russlands, den sie deutlicher benennt: "Ein Wort sagt alles: Besatzung."

Ausbau der Grenzen

Gegenseitige Provokationen und Kriegsvorbereitungen mündeten im August 2008 in Kämpfe, in denen georgische Soldaten die ersten Schüsse abgaben. Danach hat Russland Südossetien und Abchasien, eine schon länger abgetrennte Region Georgiens, als selbstständige Staaten anerkannt. Die Regierung in Tiflis spricht von einem Bruch des Völkerrechts, hat jedoch de facto die Kontrolle über gut 20 Prozent des Territoriums verloren. Dort sind russische Truppen stationiert. Die Republiken sind finanziell und wirtschaftlich von Russland abhängig. Sie betreiben mit Moskaus Unterstützung seit Jahren den Ausbau der Trennlinie zu einer festen, vielerorts undurchlässigen Grenze. Familien und Dörfer sind getrennt worden, etwa 280.000 Geflüchtete können nicht mehr nach Hause.
Für die junge Aktivistin Iro sind die Schuldigen die Machthaber in Südossetien, Abchasien und Russland: "Ich denke, sie haben die Hoffnung, dass, wenn unsere Generation heranwächst, die keine Erinnerung mehr an Abchasien und Südossetien hat, wir ihnen einen Teil unseres Landes überlassen werden."

Der Westen als Schreckensbild

Im heutigen Handeln Russlands sieht sie etwas Schleichendes: So wie an der Trennlinie tatsächlich immer wieder weitere Quadratmeter besetzt werden, seien soziale Netzwerke in Georgien gut gefüllt mit Lügen und Behauptungen. Iro fürchtet, Georgiens politischer Weg in den Westen solle sabotiert werden. Meist lautet der Tenor der Propaganda: Der Westen, vor allem Europa, seien moralisch verkommen und ein Tummelplatz für schrankenlose Sexualität und Drogenkonsum. Die Alternative sei der gute, stabile und wertkonservative Bruder im Norden, Russland.
"In den Regionen liest die Generation unserer Eltern und unsere eigene Generation solche Zeitungen, in der russische Propaganda und sonst nichts steht. Wir haben einige Facebook-Seiten. Wir versuchen, auch mit unseren Großeltern und Eltern zu sprechen, man sollte ja erst einmal mit seinen Freunden und der Familie sprechen. Im Moment arbeiten wir auch an einer Art Zeitung gegen russische Propaganda. Wir sind eine Gruppe von 20 Leuten."
Damit die Zeitung finanziert werden kann, läuft zurzeit eine Crowdfunding-Kampagne. Die jungen Aktivisten recherchieren und posten. Einer ihrer wichtigsten Facebook-Seiten folgen rund 40.000 Profile. Ihr Ziel: nicht unbedingt Journalismus, sondern aufrütteln.

Politische Rave-Szene

Die Rave-Szene in Tiflis ist in den vergangenen Jahren immer größer geworden. Dazu passen die Sprache dieser Generation und ihr Lebensstil. Sie orientieren sich am Westen, suchen dessen Freiheiten. Ermüdet vom jahrelangen Streit mit Russland stumpfe der Blick mancher Georgierinnen und Georgier ab, sorgen sich die jungen Aktivisten. Tako Robachidse will gegenhalten. Sie ist 31 Jahre alt und freie Fotografin:
"Wenn wir im Sommer ans Schwarze Meer fahren, vergessen wir, nach rechts zu schauen. Man kann die russischen Basen sogar von der Hauptstraße sehen. Und die Schilder, auf denen ‚Staatsgrenze‘ steht, sind nur 500 Meter von der wichtigsten Autobahn entfernt."

Die Grenzen verschieben sich

Mit einem Stipendium der Magnum-Stiftung hat sie eine Langzeitdokumentation unternommen. Ihr Multimediaprojekt trägt den Titel "Creeping Borders", "Kriechende Grenzen". Darin erzählen Anwohner der Trennlinie und Geflüchtete, die früher von Landwirtschaft lebten, von ihren Schwierigkeiten. Zäune werden immer weiter nach Georgien hinein versetzt.
"Sie haben kein Wasser, weil sich die Wassertanks auf besetztem Territorium befinden. Wasser, Bewässerung und auch Trinkwasser sind Probleme. Die meisten Gärten sind ausgetrocknet. Sie können deshalb keine Früchte und Gemüse mehr anbauen. Und außerdem haben sie Angst, weil ihnen gesagt wird, dass sie der sogenannten Grenze nicht näher als 150 Meter kommen können."

Massen-Rave vor dem Parlament

Es ist auffällig, wie sich als Reaktion auf diese Wunden und Traumata vor allem die jüngeren Generationen in Georgien vernetzen. Die Aktivisten eint der Glaube, ihr Land finde irgendwie einen Weg, einmal zu Europa dazu zu gehören. Dass die Europäische Union, in die sie wollen, keine konkreten Angebote macht, ficht sie nicht an. Die Aktivisten hegen, wie viele Jüngere in der urbanen, westlich orientierten, Englisch sprechenden jungen Generation eine tiefe Abneigung auch gegen die Amtsführung der Regierenden in Tiflis.
Als im Frühjahr die Polizei in der Hauptstadt mitten in der Nacht auf rabiate Art und Weise zwei Raver-Clubs nach Drogen filzen ließ, verlegte die Szene ihre Protest-Party bald darauf vor das Parlament.
Diese großen Kundgebungen waren ein Grund für den Rücktritt des Ministerpräsidenten im Sommer. Aber es hat auch Gegendemonstrationen nationaler, teils auch extremistisch-rechter Gruppen gegeben. Hält Georgien an seinem Weg nach Europa fest oder bewegt es sich wieder auf Russland zu? Die Antwort darauf steht noch lange nicht fest.
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