Der Laie und das Jahrtausendgenie

21.02.2012
Detailversessen wie wenige hat Albrecht Dürer vor mehr als 500 Jahren seinen Zeichnungen und Radierungen immer noch eine Dimension hinzufügen können. Rolf Vollmann macht mit seinem "Verführer" sowohl Kennern als auch Neulingen Lust auf den Maler.
"Ritter, Tod und Teufel", "Melancholie" oder "Adam und Eva" - der Schriftsteller und Literaturkritiker Rolf Vollmann wildert zum ersten Mal auf fremdem Terrain. Der kunsthistorische Laie begibt sich in die Kunstgeschichte. Und dann auch noch zu einem Jahrtausendgenie, dem großen Renaissancekünstler Albrecht Dürer, der angeblich den Ernst, die philosophische Schwere in die deutsche Kunst gebracht hat.

Rolf Vollmann, der bisher als kurzweiliger und kenntnisreicher Interpret von Romanen aufgetreten ist ("Die wunderbaren Falschmünzer", sein "Roman-Navigator") hat sich über 100 Kupferstiche, Kaltnadel- und Eisenradierungen aus dem Werk Albrecht Dürers gebeugt, er hat sie intensiv betrachtet und auf sich wirken lassen: Hexen und Madonnen, Bauern, Krieger, Totenmänner, Alptraumgesichte und Passionsszenen. Er verfällt nicht in den Fehler, kunstgeschichtliche Betrachtungen anzustellen oder der unübersehbar gewordenen Dürer-Literatur eine weitere Facette an mythologisch-theologischer Deutung hinzuzufügen. Er liest die Bilder wie einen Text und versieht sie mit den Kommentaren eines ungemein belesenen Amateurs.

Zunächst liefert er zu jedem Bild eine minutiöse Beschreibung, lupenbewehrt folgt er in großer Entdeckerlust selbst dem winzigsten Detail, er zeichnet nach, wie sich in den "ruhigschönen" Augen eines Nürnberger Ratsherren die Kreuze von Fenstern spiegeln. Oder er kommt der verblüffend sinnlichen Wirkung einer Madonnenstirn auf die Spur, indem er Dürers neuartige Technik schildert: Die Umrisse von den Rändern her aufwölbend, lässt er das Bildzentrum, Stirn, Wange oder Schenkel unberührt. So wird nachvollziehbar, dass sich der "Schimmer von Unschuld" allein über das ausgesparte blanke Papier herstellt. Indem Vollmann nur in Worte fasst, was er sieht, entdeckt er neben handwerklichen Kniffen vor allem den bildlichen Kosmos der Kupferstiche völlig neu.

Erst dann gestattet sich Vollmann Kommentare und Anmerkungen, die wie gewohnt aus einem reichen Fundus an Gelehrsamkeit schöpfen. Merklich fasziniert von der Kraft des Erzählens, die in den Graphiken steckt, springt er in mal schlüssigen, mal überraschenden Assoziationen von Goethe zu Wieland, von Nietzsche zu Hesiod. Auch der Alltag vor seinem Fenster mischt sich ein: Die Jagdgöttin Diana ist dann schon mal eine verwöhnte Göre und Maria nutzt die Mondsichel wie ein Surfbrett, um aus dem Bild zu eilen.

Das Ganze liegt in zwei Bänden vor, so dass der Leser die exzellent (zumeist in Originalgröße) gedruckten Abbildungen in einem Band studieren kann, während er in dem anderen den Bildbeschreibungen folgt. Manche Höhepunkte fehlen freilich, weil sie Pinselzeichnungen sind, wie die "Betenden Hände" oder das berühmte "Selbstbildnis im Pelzrock", ein Ölgemälde. Diese Lücken verschmerzt man umso mehr als Rolf Vollmann auf einzigartige Weise die Dürersche Welt erschließt. Kennern bietet er ungewohnte Ausflüge in die Geistesgeschichte. Und Dürer-Neulinge erleben eine Schule des Sehens. Für beide sind die Bände ein vergnüglicher Begleiter, nicht nur durch die großen Nürnberger Ausstellungen, die die Stadt ihrem berühmtesten Sohn in diesem Jahr widmet.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Rolf Vollmann: "Der Dürer-Verführer oder die Kunst, sich zu vertiefen"
Knaus-Verlag, München 2011
2 Bände, 367 Seiten und 207 Seiten, 59,99 EUR
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