Der Krieg im Spiegel eines Dorfes

10.08.2009
Es gibt wohl zur Zeit keinen französischen Autor, der so sehr das Markenzeichen des Düster-Geheimnisvollen trägt wie der 1962 in Dombasle/Lothringen geborene Philippe Claudel. Selbst Kinofans ist er inzwischen ein Begriff, seit sein Film "So viele Jahre liebe ich Dich" mit Kristin Scott Thomas auf der letztjährigen Berlinale Furore machte. Die Herzen der Leser aber eroberte er vor fünf Jahren vor allem mit seinem Roman "Die grauen Seelen". Er handelt von den Schrecken des Ersten Weltkriegs an der sogenannten Heimatfront.
Wie ein Seitenstück dazu liest sich jetzt Philippe Claudels neuer Roman "Brodecks Bericht". Wieder geht es um den Weltkrieg, diesmal um den Zweiten. Und wieder spielt die Geschichte in einem kleinen Dorf, fernab vom eigentlichen Kampfgeschehen, unmittelbar nach 1945. Es ist die Zeit der "Säuberungen". In den letzten Monaten der deutschen Besatzung hatte in Frankreich ein verdeckter, aber grausam geführter Bürgerkrieg getobt – zwischen der Résistance und den "Collabos". Diese Dinge wirken von fern hinein in das von Claudel beschriebene Geschehen. Er konzentriert sich ganz auf ein einzelnes Verbrechen, an dem jedoch die gesamte Dorfgemeinschaft beteiligt ist.

Ein fremder Mann, geschminkt, auffällig gekleidet, vielleicht ein wenig übertrieben freundlich, kommt eines Tages in das Dorf – und wird ermordet. Er hat mit allerhand geheimnisvollen Notizen sowie mit seinen eigentümlich ausdrucksstarken Porträt- und Landschaftsbildern das schlechte Gewissen der Dorfbewohner aufgerührt. Das halten sie nicht aus. Alle hatten sie während des Krieges krumme Geschäfte gemacht. Und aus Furcht vor weiteren Enthüllungen entledigen sie sich des Mannes, den sie nur "den Anderen" nennen.

Dies erfährt der Leser von einem Mann, der Brodeck heißt. Er ist Verfasser jenes Titel gebenden Berichts, den die Dorfgemeinschaft bei ihm in Auftrag gibt, damit er sie entlaste. Doch was wir lesen, ist ein zweites, paralleles Buch von Brodeck: Seine von vielen Rückschauen in die Vergangenheit unterbrochene Gewissenserforschung. Auch Brodeck ist ein Ausgestoßener, ein Fremdling – Jude. Und er ist nach einer Denunziation durch den Dorflehrer von den Deutschen in ein KZ deportiert worden, aus dem er nur wie durch ein Wunder heil herauskam. Wie durch ein Wunder – jedoch auch, weil er noch während des Transports im Viehwaggon seinerseits ein Verbrechen beging, das ihm im Laufe seiner Aufzeichnungen mehr und mehr zu schaffen macht.

Der Reiz des Romans besteht im Verwischen historischer Konturen. Lange braucht der Leser, um herauszufinden, dass hier vom Zweiten, nicht vom Ersten Weltkrieg die Rede ist; so archaisch wirken die Schilderungen des Dorflebens. Lange braucht er auch, um sich auf merkwürdige Menschen wie die "Fratergekeime" seinen Vers zu machen, mit denen die deutschen Besatzer gemeint sind. Familienamen wie "Orschwir" und Flurbezeichnungen wie "Steinühe" deuten auf das Elsass oder Lothringen als Landschaft hin, in der diese Geschichte angesiedelt ist. Doch alles bleibt in der Schwebe, vage und ungenau. Dies gilt auch für das, was Brodeck von seiner Zeit im Lager erzählt. Nur eines wird sehr deutlich in diesem Buch von beklemmender Suggestivität: Verbrechen und Gewalt sowie das Bedürfnis, den anderen, den Fremden auszugrenzen, zu verfolgen – sie existieren überall, zu allen Zeiten. Und sind mit dem Ende der Nazi-Herrschaft mitnichten aus der Welt. Das kann man als Moral der Geschichte historisch und erinnerungspolitisch für fragwürdig halten, aber eine fesselnde Erzählung ergibt es im Fall von Philippe Claudel, diesem Meisters der Grau-Töne, doch.

Besprochen von Tilman Krause


Philippe Claudel: Brodecks Bericht.
Aus dem Französischen von Christiane Seiler.
Kindler im Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 332 S., 19, 90 €