Der Krieg beginnt im Kopf

Rezensiert von Arno Orzessek · 01.12.2006
Der Lyriker, Romancier und Publizist Zafer Şenocak ist kein Hysteriker, sondern – im Gegenteil – ein besonnener Denker mit einer klaren Vorliebe für Deeskalation. Einmal indessen lässt sich auch Şenocak in dem Essay-Band "Das Land hinter den Buchstaben" auf eine spektakuläre Überhöhung ein. Er spricht vom "unbenannten ‚Dritten Weltkrieg’" zwischen westlichen Demokratien und politisch radikalisierten Muslimen.
Israel und Libanon, Irak und Afghanistan, Berlin und Istanbul – laut Şenocak sind es "Nebenschauplätze" des einen, globalen Kriegs, der zuerst in den Köpfen wütet und Worte und Bilder verheert.

"Ein Feind wird ausgemacht. Das Gefühl der Bedrohung kultiviert, Fronten werden geschaffen, Alliierte gesucht... Die verfeindeten Parteien liefern einander Munition. Der iranische Präsident leugnet den Holocaust. Die USA treten im Irak ihre eigenen Werte mit Füßen... Israel weitet seinen berechtigten Kampf gegen die selbsternannten Gotteskrieger der Hisbollah auf ganz Libanon aus und schneidet dem zarten Pflänzchen der libanesischen Demokratie die Lebensader durch."

Der Weltbürgerkrieg, in dem die Frontlinien letztlich unsauber verlaufen, nämlich nicht einfach zwischen Gut und Böse – der Weltbürgerkrieg ist der bedrohliche Hintergrund, vor dem Şenocak über zwei Themenkomplexe nachdenkt: Den Islam und die Moderne einerseits und Deutschland und seine Bürger türkischer Abkunft andererseits.

Şenocak, der in Ankara geboren wurde, in Istanbul aufwuchs, seit 1970 in München lebte und 1989 in das – wie er schreibt – "mürrische, novembersüchtige" Berlin umzog, beginnt den Gedankenweg mit Erinnerungen an seinen Vater, einen gebürtigen Ostanatolier, dessen 2004 veröffentlichte Autobiografie "Ein Fremder unter den Muslimen" betitelt ist:

"Mein Vater hasste Atatürk. Für ihn war er nichts weiter als ein degenerierter Pascha, ein Diktator, der den Islam verraten hatte. Mein Vater war ‚gerici’, ein Rückschrittlicher in den Augen kemalistischer Ideologen. Doch er war auch weit entfernt von jenen Positionen, die heute dem politischen Islam zuzuordnen sind... In seinen Augen konnten, ja mussten auch die Grundsätze des islamischen Glaubens kritisch betrachtet werden."

Rationale Selbstkritik – sie ist es, die laut Şenocak der islamischen Welt am ehesten fehlt. Als Liebhaber der Lyrik Yunus Emres, eines anatolischen Mystikers aus dem 13. Jahrhundert, als Verehrer des jüdischen Philosophen Martin Buber, als imaginärer Briefpartner Heinrich Heines sucht Şenocak die Gründe für den heutigen "muslimischen Analphabetismus" weniger im politischen Tagesgeschäft, als vielmehr in der kulturhistorischen Entwicklung.

Şenocak erinnert daran, dass vielen Vordenkern der europäischen Aufklärung der schlichte, abstrakte Islam noch als "die Vernunftreligion schlechthin" erscheinen konnte. Im neuzeitlichen Verlust des intellektuellen Niveaus, in der Zerstörung der Religion als geistiger und spiritueller Ressource zugunsten politischer Mobilmachung, in einer Rezeptionshaltung, die den Koran wie "die Maobibel" liest, sieht Şenocak die Hauptursache der akuten Aggressivität innerhalb des Islam.

"Die Tradition der Sufis mit ihrer reichen Ästhetik und ihrer Weisheit, die ähnlich wie die jüdische Mystik vieles aus dem persisch-indischen Kulturraum aufgenommen hat, liegt heute ebenso brach wie die Denkschulen der muslimischen Philosophie, die einst im maurischen Spanien ihre Blütezeit erlebte. Die Rationalisten und die Skeptiker, die schwärmerischen, erotisierten Mystiker spielen in der islamischen Kultur gegenwärtig keine Rolle. Die Technokraten des Glaubens haben sie aus dem Geist verbannt, aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht."

"Islam, öffne dich!" – heißt Şenocaks rigoroser Appell. Was aber nicht heißt, dass der Autor ein linientreu-unterwürfiger Verbündeter des so genannten Westens im Kampf gegen den Islam ist. Nein, Şenocak spielt das Wechselseitige aus, das seiner Biografie eingeschrieben ist. Er zeigt auch vom Orient auf den Okzident, vom Bosporus nach Mitteleuropa und hier namentlich auf die "kulturkämpferischen Konservativen".

"In ihren Köpfen steht das türkische Heer immer noch vor Wien oder Konstantinopel. Der Türke hingegen... der ihre Sprache spricht, ist ihnen nichts wert, ja er muss verschwiegen werden zugunsten jenes Christenfeindes, vor dessen Schwert man sich Jahrhunderte lang fürchten musste. Europas Kulturalisten verkennen den Wert dieses modernisierten, ‚bastardisierten’ Türken als Grenzverletzer, als Herausforderer fixer Identitätsvorstellungen, weil ihnen jede Grenzverletzung... ein Gräuel ist. Dankbar sind sie dagegen, wenn auch klammheimlich, für jeden Ehrenmörder, dessen verabscheuenswürdige Tat... die Grenze zum Eigenen leicht ziehen lässt."

Das ist wahrscheinlich richtig, sicher aber polemisch zugespitzt – und die Zuspitzung hat mit der Textsorte zu tun, die in "Das Land hinter den Buchstaben" vorherrscht.
Doch das schlaglichtartige Ausleuchten des Islam-Moderne-Komplex’ hat auch bestechende Vorteile. Wenn man den Band an einem Stück liest – und das ist bei 214 Textseiten leicht möglich –, beginnt sich die geistige Welt zu drehen. Mit Şenocak wechselt man auch selbst mehrfach die Seiten und wird immer vertrauter mit den Koordinaten seines Denkens. Şenocaks These, dass Europa der islamischen Welt "immer ähnlicher" wird, hat dann nichts Überraschendes mehr.

"In den durch die Massenmedien transportierten Bildern verliert die islamische Kultur ihre sozialen und geistigen Dimensionen, wird zur Visage von Terrorfürsten wie Osama Bin Laden reduziert. Nicht nur die Karikaturisten des Propheten berufen sich ausschließlich auf diese Bilder... Auch viele Autoren der westlichen Presse haben inzwischen ein verkrüppeltes Islambild. Aus Versatzstücken des Koran ... wird nicht nur der islamische Fundamentalismus, sondern auch die scheinbare Kritik an ihm formuliert."

Der Textsorte entsprechend, mischt sich Şenocak oft in aktuelle Debatten ein. Er hält Papst Benedikt XVI. vor, mit seiner Regensburger Universitätsrede "uralte Mythen, auf deren Grundlage manch ‚heiliger’ Krieg geführt worden" sei, reaktiviert zu haben. Er kritisiert den türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdoğan wegen geistiger Führungsschwäche und vergleicht ihn süffisant mit dem kunstsinnigen letzten Kalifen Abdülmecid Efendi.

Şenocak plädiert für die Zweisprachigkeit hiesiger Türken – und solange sie Türkisch und nicht Deutsch als Muttersprache erlernten, könne die Forderung nur lauten: In Deutschland muss "besseres Türkisch" gesprochen werden, dem dann besseres Deutsch folgen möge.

Am Ende des Bandes betrachtet Şenocak Deutschland als "Standortübungsplatz". Er schreibt – und das ist ein echter Genuss – über Berlin als "Hauptstadt des Fragments".

"Ich kam in den Westteil der Stadt, ein Jahr vor der Maueröffnung... West-Berlin war eher eine anatolische Kleinstadt als eine Metropole. Aber genau dieser Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit machte den Reiz der Stadt aus. Nach dem Mauerfall wurden das anatolische Berlin und das sowjetische Berlin vereinigt. Es entstand eine Megaprovinz, ein Magnet für Künstler, die die Sehnsucht nach Visionen in die Stadt trieb. Anderswo verleihen Menschen ihrer Stadt Visionen. Hier ist es umgekehrt, man erwartet von der Stadt Einfall und Inspiration."

"Das Land hinter den Buchstaben" ist ein frisch komponierter, leicht zugänglicher Essayband. Zafer Şenocak ist weit davon entfernt, irgendein letztes Wort über den Islam und Europa zu sagen – dafür fährt man in seiner Begleitung auf dem Karussell der Perspektiven besonders rasant.

Wenn es stimmt, dass die abendländische Tradition der Xenophobie und der muslimische Fundamentalismus ähnlich strukturiert sind, dann stimmt auch, dass das Feindbild beider der "Mischling" ist – "das verunreinigte Wesen", wie Şenocak schreibt. Sein Buch plädiert unter der Hand dafür, diesen "Mischling" als die plausibelste Existenzform der Gegenwart zu begreifen.

Zafer Senocak: Das Land hinter den Buchstaben
Deutschland und der Islam im Umbruch
Babel Verlag, München 2006
Rezensiert von Arno Orzessek
Zafer Senocak: Das Land hinter den Buchstaben (Coeverausschnitt)
Zafer Senocak: Das Land hinter den Buchstaben (Coeverausschnitt)© Babel Verlag