Der kostümierte Aufstand

Von Tobi Müller · 14.04.2011
Tritt einer durch die Theatertür ins Gestapobüro, fährt das Führerporträt an der Wand jedes Mal lustig rauf und runter. Man legt überhaupt großen Wert darauf an diesem Abend, jede noch so prekär als Kulisse ausgestellte Kulisse pedantisch zu respektieren.
Denn wir sind im Theater, das ein Stück spielt, in dem vor allem Theater gespielt wird. Und zwar über eine Zeit, in der Verstellung tatsächlich über Leben oder Tod entscheidet, über "Sein oder Nichtsein". Die Nazikomödie von Ernst Lubitsch (1942) wusste noch nichts Genaues über die Vernichtungslager, Nick Whitbys Broadway-Version hingegen schon, und Milan Peschel, der den Stoff nun im Berliner Maxim Gorki Theater zeigt, denkt bereits durch die Brille von Tarantinos "Inglourious Basterds".

Der Plot um die Warschauer Theatertruppe, die kurz vor der deutschen Besetzung die Gestapo parodiert, und kurz danach eigentlich auch, aber jetzt unter lebensgefährlichen Umständen, der Plot um den ästhetisch kleinen Unterschied zwischen Parodie und rettender Verstellung steht auch in Berlin im Zentrum. Die etwas gar grandiose Frage des Abends ist, was eine Kunst leisten kann, die zwischen spaßiger Triebabfuhr und nackter Not nicht mehr trennt und dazu immer die gleichen (Selbst-)Bilder präsentiert. Oh erschlaffte, narzisstische Kunst! Diesen Expressionismus muss man aushalten, bei aller Komik. Am Schluss gibt es auch eine "Wie weiter?"-Szene wie eine an die Wand genagelte hochgezogene Augenbraue.

Regisseur Peschel und sein Team bauen die Hamlet-Happen von Lubitsch sogar noch aus, was widerstandslos geht, da Bilder des Spielens und Schemen des Todes beide zuhauf und paarweise im Hamlet herumgeistern. Damit konzentriert sich Peschel also ganz auf das, was er kennt, das Spielen nämlich. Peschel war erst – unverkennbar an diesem Abend der Kulissenschieberei - von Haus aus Techniker, bevor er Ende der 90er Jahre zu einem der Schauspielstars der Berliner Volksbühne wurde. Peschel, dessen Augen noch den dichtesten Nebel durchdringen, dessen Zartheit noch in der betrunkensten Grobheit nicht ganz ersäuft, dessen Komik gerne mit der Tücke des Objekts ringt. Das haben auch Film und Fernsehen gemerkt. Aber jetzt Peschel, der Regisseur, der endlich einen Stoff gefunden hat, der ihn grundlegend beschäftigt. Und gleich in mehreren Sprachen: Ende März hatte "Sein oder Nichtsein" im Stary Teatr in Krakau Premiere, am Donnerstag gab es bereits die Version mit deutschen Schauspielern in Berlin. Ja, das hat noch das eine oder andere geklappert und stülpte sich auch mal zu rasch nach außen, das sieht man selbst dann, wenn die Beobachtungsebenen kompliziert und lustvoll sind: gute Schauspieler, die schlechte Schauspieler spielen, die wiederum Nazis spielen.

Möglich macht es der Wanderlust-Fond der Bundeskulturstiftung, der rund 30 Austauschtheaterprojekte unterstützt, wobei sich Berlin-Krakau sehr nachbarschaftlich anfühlt, im Gegensatz zu Paarungen wie Mannheim-Bangalore oder Würzburg-Ouagadougu. Magdalena Musial, die Bühnenbildnerin, ist zudem Peschels Gattin und in Polen aufgewachsen. Und doch: Ein Deutscher, der in Polen eine Nazikomödie über polnische Schauspieler zeigt? Offenbar waren derart kulturelle Bedenken die Bedenken der Deutschen allein, nicht der Polen, wo sich die Meinungen allenfalls ästhetisch gegabelt haben.

Es ist herrlich, Roland Kukulies beim hemmungslosen Chargieren, beim gespreizten Hamlet-Geprotze als Schauspieler Josef Turia zuzusehen. Derart mimisch herausgefordert haben wir den Mann noch nie gesehen. Am andern Ende der darstellerischen Temperaturskala bewegt sich der über 80-jährige Horst Westphal, der als Bronski vom Durchbruch als Hitler-Darsteller träumt und schon zufrieden ist, wenn er ein Autogramm für jemand anderes geben darf – Egozentrik geht auch in bescheiden. Und Sabine Waibel als Turias Frau gibt sich schon gar nicht die Mühe, etwas anderes zu spielen, egal ob sie gerade ihrem Mann, dem polnischen Flieger oder dem Gestapo-Spion als Gespielin dient. Dazu tunkt Peschel die ganze Szenerie in einen Tarantino-inspirierten Soundtrack des Spaghetti-Westerns, die zwar abgenudeldste Trash-Referenz, die man im Theater noch machen kann, aber sie fällt zum Glück auch nicht weiter ins Gewicht.

Ironiesignale zum Trotz, gegen Ende will der Abend immer deutlicher sagen, was er längst vorgeführt hat. Und damit sind wir bei der falschen Frage nach dem echten Leben, wenn auch lustig gestellt. "Sein oder Nichtsein" in Berlin zeigt trotz Slapstick-Siegel auch etwas empört auf die Kunst der Verstellung. Manchmal wirkt das wie der Blick eines wachen Heranwachsenden, der überall Falschheit wittert und dabei Authentizität einfordert. Schön und zunehmend verwirrend führen Peschel und Co vor, wie alle die Theatralität der Situation in jedem Moment durchschauen, und doch die gemeinsame Einbildung von Wirklichkeit aufrecht erhalten. Doch das hat nichts, wie es der Abend nahe legt, mit Nazikram, Narzissmus oder mangelndem Engagement zu tun, sondern grundlegend mit Gesellschaft. Über die theatrale Verfasstheit der Höflichkeit schrieb schon Kant, in unserer Zeit auch Richard Sennett, und alles zusammen kann man aktuell beim Wiener Philosophen Robert Pfaller nachlesen. Der wahre Terror ist nicht die Verstellung, sondern der Zwang zum Authentischen.