Der Kosmos der rauen Steppenwelt

07.02.2009
Nicht jedem Schriftsteller widmet sein Verlag eine Werkausgabe, selbst wenn dieses Werk als abgeschlossen gelten kann. Im Fall des Kirgisen Tschingis Aitmatow mögen manche Zweifel aufkommen. Richtig ist, dass er bis vor etwa 20 Jahren immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis gesehen wurde. Ebenso richtig ist aber auch, dass seine letzten Romane einem solchen Anspruch kaum mehr gerecht wurden. Ist dieses erzählerische Gesamtwerk, das hier präsentiert wird, tragfähig genug, um eine solche Ausgabe zu stützen?
Man kann die Frage rundweg bejahen. Denn auch wenn es unbestreitbar ist, dass Aitmatows späte Produktion, die er neben seinem Hauptberuf als Diplomat in der westeuropäischen Provinz hervorbrachte, Symptome einer progressiven erzählerischen Entkräftung aufwies, lohnt der Blick auf dieses Gesamtwerk unbedingt.

Zum einen, weil sich bis zum Roman "Ein Tag länger als ein Leben" (1980) eine literarische Potenz entfaltet, die authentisch und spürbar an seine Herkunft, seine Heimat Kirgisien, gebunden ist. Die raue Steppenwelt Mittelasiens mit ihren Sagen und Überlieferungen, der genau betrachtete Kosmos des dörflichen Lebens, das Sensorium für tief menschliche Regungen - sei es die Liebe, sei es die Verbundenheit Tieren gegenüber -, dies alles formte sich zu einer poetisch verdichteten Erzählweise, die den Schmelz einer exotischen Fremdheit enthielt.

Dass er sich darüber hinaus immer mit einer erkennbaren Wirklichkeit und ihren moralischen und auch politischen Grenzziehungen auseinander setzte, machte ihn ganz früh, seit der Erzählung "Djamilja" (1958), zu einem viel diskutierten Autor. Neben zahlreichen Erzählungen, die die Ausgabe präsentiert, festigten die Novellen "Abschied von Gülsary" (1966), "Der weiße Dampfer" (1970) oder "Frühe Kraniche" (1975) seinen Ruf als wesentlicher Erzähler und haben von ihrem Reiz recht eigentlich nichts eingebüßt.

Den Roman "Ein Tag länger als ein Leben" liest man heute als ein frühes Resümee all der kulturellen und politischen Krisen, an denen kaum ein Jahrzehnt später die Sowjetunion und das von ihr dominierte gesamte Sozialismusmodell scheitern sollten. Dass dieser Roman dabei eine sensibel erzählte, auch hier von mythischen Elementen durchzogene Lebensgeschichte aus eben jener entlegenen Steppenprovinz enthält und zugleich so etwas wie einen "globalisierten" Horizont, macht das Buch zu einem bis heute herausragenden Text.

Dass diese Ausgabe, zum anderen, auch weniger bedeutsame Prosa oder an ihre Zeit gebundene Publizistik versammelt, gehört nicht nur zum vollständigen Bild dieses Autors, es erlaubt auch eine gleichsam literatursoziologische Rekonstruktion der Bedingungen seines Schreibens. So sind die schwächeren letzten Romane "Das Kassandramal" (1994) und "Der Schneeleopard" (2006) nicht zuletzt Ausdruck einer gewissen Hast im Bemühen, den Bedrängnissen der aktuellen Welt mit literarischen Texten zur Seite zu stehen.

Rezensiert von Gregor Ziolkowski

Tschingis Aitmatow: Das erzählerische Werk. Romane, Novellen, Essays, Autobiographisches
Aus dem Russischen von Friedrich Hitzer und Charlotte Kossuth
Unionsverlag, Zürich 2008
6 Bände in Kassette, 2512 Seiten, 178,00 Euro