Der Kopenhagener Sokrates

02.05.2013
Wie kein anderer Denker hat Søren Kierkegaard die Freiheitsdimension der menschlichen Existenz vermessen. Im Mai jährt sich der Geburtstag des dänischen Philosophen zum 200. Mal. Otto A. Böhmer erzählt Kierkegaards Biografie neu und zeichnet die Grundzüge seines Denkens nach.
Ein reicher Textilhändler in Kopenhagen schwängert eine Dienstmagd, während seine Ehefrau sterbenskrank darniederliegt. Seine Schuldgefühle überträgt er auf das Kind aus dieser Verbindung: Søren Kierkegaard, geboren am 5. Mai 1813, "als außer mir noch manches Falschgeld in Umlauf kam", wie der hochbegabte dänische Dandy später von sich sagen wird. Schuld und Gnade, Angst und Freiheit, Selbstfindung und Tod werden Kierkegaards Lebensthemen.

Aus dem 35-bändigen Gesamtwerk des Theologen und Philosophen hat nun Literaturwissenschaftler Otto A. Böhmer jene Texte ausgewählt und kommentiert, die sich mit der Identitätssuche befassen. Die ist mehr als nur "das generöse Bemühen, die eigene Person zu verstehen", so Kierkegaard, nämlich eine "schmerzhafte Wahrnehmung der Einsamkeit unserer Existenz".

Er nennt es die "Krankheit zum Tode", dass der Mensch zwar Freiheit und Verantwortung hat, aber "nicht schuldig schuldig" bleibt, keinen Halt und keine Antwort auf die Wahrheitsfrage findet und ständig mit dem Tod verhandeln muss. Der aber lässt nicht mit sich reden.

Kierkegaard prägt bis heute ganze Generationen von Theologen
Kierkegaard vergleicht das Ich mit einer Kutsche: Der "bewusstlos Dahinlebende ist wie ein betrunkener Bauer, der im Wagen liegt und den Pferden den Weg überlässt". Ein reflektierter, sich bewusst suchender Mensch ist wie ein Kutscher, der die Pferde schlecht und recht lenkt, aber nur Wiederholungen des Mittelmäßigen erreicht. Gezogen wird die Kutsche von einem lahmen Gaul namens "Zeit" und einem feurigen Rennpferd namens "Ewigkeit".

Wobei Kierkegaard "Ewigkeit" nicht als mittelalterlich christliche Himmelsvision versteht, sondern als Qualitätsprädikat für eine mit sich und der Welt versöhnte Existenz. "Reif" für eine so verstandene "Ewigkeit" ist laut Kierkegaard der Mensch, der Gott die Zügel überlässt. Nur dieser "listig unauffällige, unsichtbar allgegenwärtige Kutscher" nämlich hält Zeit und Ewigkeit in Händen, sodass der Mensch aller Lust und allem Leiden der Welt mit "heiterer Geringschätzung" begegnen kann.

Søren Kierkegaards Scharfsinn, sein satirischer Spott über Hegel, Schelling und den deutschen Idealismus, seine Nähe zu Schopenhauer und Heinrich Heine haben Ernst Bloch, Karl Jaspers und Theodor W. Adorno beeinflusst. Kierkegaard prägt bis heute ganze Generationen von Theologen. Otto A. Böhmer greift das in diesem Buch zwar auf und bleibt trotz der gigantischen Materialfülle eisern beim Thema Selbstfindung - er hat sich aber bei der Recherche offenbar so viel Sprachstil des frühen 19. Jahrhunderts angeeignet, dass man unterwegs nicht immer weiß, ob jetzt der Kopenhagener Sokrates schreibt oder der Biograf aus der hessischen Wetterau.

Dass Böhmer "die eigenartige Biografie dieses Probemenschen" Kierkegaard "neu zeichnet", wie es im Klappentext heißt, ist arg übertrieben. Umfassend, qualitativ unerreicht und bis heute sehr empfehlenswert ist, und bleibt die 950-Seiten-Biografie "Kierkegaard" von Joakim Garff, erschienen 2004 beim Hanser-Verlag.

Besprochen von Andreas Malessa

Otto A. Böhmer: "Reif für die Ewigkeit. Søren Kierkegaard und die Kunst der Selbstfindung"
Diederichs Verlag, München 2013
173 Seiten, 17,99 Euro
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