"Der Konflikt ist schon immer gewaltsam gewesen"

Moderation: Jürgen König · 19.06.2007
Die Kämpfe zwischen der radikalislamischen Hamas und der Fatah-Miliz im Gazastreifen sind kein neues Phänomen, urteilt der Historiker Joseph Croitoru. Schon in den 80er Jahren habe es Kämpfe gegeben, allerdings habe die Hamas unter der Herrschaft der PLO nicht so gewaltsam vorgehen können. Croitoru sieht die Gefahr, dass die Hamas im Gazastreifen einen palästinensischen Gottesstaat ausrufen könne.
Jürgen König: Wie reagieren die Intellektuellen in Palästina auf die Kämpfe in Gaza und im Westjordanland? Das soll jetzt unser Thema sein im Gespräch mit dem Historiker und Journalisten Joseph Croitoru, in Haifa geboren, er lebt seit 1988 in Deutschland, ist u.a. fester Autor des Feuilletons der FAZ. Joseph Croitoru, zuletzt erschienen von ihm die Studie "Der Märtyrer als Waffe - die historischen Wurzeln des Selbstmordattentats" und gerade im März kam heraus das Buch "Hamas - der islamische Kampf um Palästina". Joseph Croitoru, guten Morgen!

Joseph Croitoru: Guten Morgen.

König: Wie reagieren die Intellektuellen in Palästina auf die Kämpfe zwischen Hamas und Fatah? Zunächst die Intellektuellen, das sagt sich so, unsere Nachrichten, unsere Nachrichtenbilder werden dominiert von vermummten Kämpfern, von dramatischen Straßenszenen. Wer sind die Intellektuellen Palästinas, wo und wie leben sie?

Croitoru: Ja, das hängt ja natürlich mit unserer Definition dessen, was ein Intellektueller ist, zusammen. Denn eigentlich in unserem Sinne würden wir eher die säkularen Intellektuellen meinen, die auch meistens mit den säkularen Organisationen bei den Palästinensern verbunden sind, hauptsächlich vor allem mit der PLO, also mit der Fatah.

Natürlich gibt es auf der einen Seite eine Schicht von Gebildeten, die den Islam und die Islamisierung der palästinensischen Gesellschaft zum Ziel haben und deshalb auch eine geistige Arbeit leisten, die eine religiös-politische ist und nicht eine direkt kulturelle in unserem Sinne ist. Aber man muss ja auch gleichzeitig einsehen, dass die Hamas wie andere islamistische Bewegungen in der arabischen Welt eine Alternativkultur geschaffen hat. Und sie hat ja auch ihr Existenzrecht und ist auch etabliert in der palästinensischen Gesellschaft.

König: Gibt es Hamas-Intellektuelle?

Croitoru: Sicherlich. Also es gibt seit kurzem auch eine palästinensische Zeitung, die in Gaza erscheint, "Felesteen" heißt, und sie wird getragen von Kreisen, die der Hamas sehr nahestehen. Und dort schreiben natürlich auch Intellektuelle, allerdings im Sinne der Hamas.

König: Wenn man die Fernsehbilder vom Gaza-Streifen in den letzten Tagen gesehen hat, dann hatte man den Eindruck eines absoluten Chaos. Man kann sich nicht vorstellen, dass dort noch Zeitungen geschrieben, gedruckt, gekauft und gelesen werden. Ist das aber so?

Croitoru: Nein, das ist ein falscher Eindruck, denn die palästinensische Presse erscheint weiterhin. Wie gesagt, dadurch, dass diese Hamas-nahe Zeitung seit einiger Zeit erscheint, gibt es einen zusätzlichen Beitrag zur Diskussionskultur für die palästinensische Seite.

König: Welche Meinungen werden vertreten über die Kämpfe zwischen Hamas und Fatah?

Croitoru: Natürlich beschuldigen beide Seiten sich gegenseitig, dass die jeweils andere Seite so etwas wie einen Putsch veranstaltet hat. Die Hamas tut es im Grunde schon seit längerer Zeit. Sie hatte einen Teil der Sicherheitsdienste der Fatah eines Putsches oder einer Putschabsicht bezichtigt. Und nach den jüngsten Ereignissen tut die Fatah das wiederum gegenüber den Milizen der Hamas. Insofern benutzen beide jetzt für die gegenseitige Beschuldigung fast die gleiche Sprache.

König: Im gestrigen Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung" schrieb Hassan Khader: "Diesmal waren es nicht die Israelis, die Palästinenser umbrachten, es waren Palästinenser, die andere Palästinenser töteten in ihrem mafiösen Streben nach Vorherrschaft und Kontrolle. Wie viel vom alten wunderschönen Bild von Palästina wird übrig bleiben nach dem, was nun Gaza zustößt?" Wie würden Sie diese Frage beantworten?

Croitoru: Na ja, also es gibt natürlich eine gewisse Nostalgie nach dem alten Palästina, das es eigentlich nie so richtig gab. Wir haben hier auch mit konstruierten Bildern der palästinensischen Vergangenheit und der Geschichte zu tun. Gerade heute schreibt zum Beispiel Ghassan Zaqtan, einer der wichtigsten palästinensischen Lyriker, ein Säkularer allerdings, in der in Ramallah erscheinen Zeitung "Al-Ayyam", dass eben die Hamas jetzt ihr wahres Gesicht zeige und im Grunde deutlich geworden sei, dass sie vorhabe, die säkulare palästinensische Kultur zu vernichten, indem sie zum Beispiel die palästinensische Geschichte in ihrem Sinne umschreibe. Also wenn man von Palästina spricht, muss man bei palästinensischen Intellektuellen darauf achten, wer genau in welchem Zusammenhang von Palästina spricht.

König: Hassan Khader meint auch, diese Kämpfe und die daraus resultierende Scham, also die Scham darüber, dass Palästinenser sich gegenseitig umbringen, diese Scham könne sich auf lange Sicht positiv auswirken. Sie hätte kathartische, also reinigende Wirkung. Glauben Sie das auch?

Croitoru: Nein, das glaube ich nicht, denn diese gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Hamas und Fatah bzw. zwischen den palästinensischen Muslim-Brüdern, aus denen ja die Hamas hervorgegangen ist, gab es schon in den früheren 80er Jahren. Also wir reden hier nicht von einer vorläufigen Erscheinung, sondern der Konflikt ist schon immer gewaltsam gewesen. Und natürlich, als die Hamas unter der Herrschaft der PLO und Jassir Arafat agieren musste, konnte sie natürlich nicht so gewaltsam vorgehen gegen die Konkurrenz der Fatah, weil natürlich die Fatah die Stärkere war. Die Situation hat sich jetzt umgekehrt.

König: Die Hamas hat ganze Viertel in Gaza zum militärischen Sperrgebiet erklärt, hat den Soldaten, die sich ergeben, befohlen, sich auszuziehen, aus den belagerten Gebäuden halbnackt herauszukommen. Das war in etwa auch die Praxis der Israelis. Wie wird so was empfunden und auch kommentiert?

Croitoru: Ja, also zum Beispiel eine Karikatur in einer palästinensischen Zeitung zeigt heute solche Praktiken, wie Sie sie jetzt beschrieben haben. Die Karikatur besteht aus vier Segmenten, und da werden solche Praktiken gezeigt, also Besatzung und dann Schikanierungen usw. Und jedes Mal wird diese Schikanierung noch gesteigert, und am Ende fragt dann eine Frau, die gekleidet ist in traditioneller Tracht der Palästinenser, die fragt: Wer sind diese Leute? Und sie fragt so ziemlich fassungslos: Sind das nicht die Israelis? Natürlich wird innerhalb dieser Auseinandersetzungen ständig gelernt, also was man auch vom Feind lernen kann, um sich besser zu positionieren, um sich militärisch zu stärken. Das wird getan, und es wird auf allen Seiten getan.

König: Wenn Sie von den gegenseitigen Schuldzuweisungen sprechen, gibt es auch Stimmen, die sozusagen überparteilich agieren und sich ausmalen, wie die Zukunft aussehen könnte? Gibt es so etwas oder ist das wirklich eine reine Polarität, ein reines Freund-Feind-Denken?

Croitoru: Ja, also leider ist die Polarität in der palästinensischen Gesellschaft sehr präsent. Es ist kaum möglich, unparteiische Stimmen zu hören, denn ich meine, selbst wenn man jetzt nicht unbedingt ein leidenschaftlicher Anhänger der Fatah ist, kann man doch zum Beispiel als säkularer Intellektueller doch nicht gleichgültig das hinnehmen, was die Hamas gerade im Gaza-Streifen betreibt.

König: Genau.

Croitoru: Und umgekehrt ist das sowieso der Fall, weil auf Seiten der Hamas ist die Doktrinierung noch viel intensiver. Sie beginnt ja schon im Kindesalter.

König: Gibt es noch jemanden, der auf einen Frieden zwischen den Palästinenserlagern setzt?

Croitoru: Die Taktik und die Propaganda der Hamas zielt ja gerade auf diese Art der Beschwichtigung. Die Hamas redet auch heute in ihrer Zeitung, als ob nichts geschehen wäre. Von der Wiederherstellung der nationalen Einigkeit, vom nationalen Dialog, das empfinden wiederum Fatah-Leute als reinen Hohn.

König: Was es doch auch ist.

Croitoru: Das ist auch schließlich ein fester Bestandteil jener Ideologie und jener Propaganda, die die Hamas auch in ihrem Wahlkampf benutzt hat und somit auch einen Großteil der Wähler getäuscht hatte.

König: Gibt es unter den Intellektuellen welche, die radikal zum Aufbau eines Gottesstaates aufrufen?

Croitoru: Ja, also unter den säkularen Intellektuellen natürlich nicht, aber wie gesagt, die Hamas in ihren Publikationen tut das schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Diese Art der Auseinandersetzung gibt es schon seit Jahrzehnten zwischen diesen beiden Organisationen. Beide haben parallele Welten entstehen lassen. Es sind im Grunde fast auch schon Parallelgesellschaften. Jede Organisation hat ihre eigene Geschichte, die sie pflegt, ihre eigenen Märtyrer, ihren eigenen Märtyrerkult, ihre eigene Ausdrucksweise, ihre eigene Geschichtsschreibung. Letztendlich ist das, was jetzt geschehen ist, das angebliche Auseinanderdriften Palästinas in den Gaza-Streifen einerseits und West Bank andererseits, eine Art logische Folge der bisherigen Entwicklung.

König: Sie sagen angeblich, haben Sie nicht den Eindruck, dass da gerade Dramatisches passiert?

Croitoru: Natürlich, es ist sehr dramatisch, aber es ist eine logische Folge dessen, was schon vorher geschehen ist, also dass keine dieser beiden Organisationen im Grunde die Macht mit der anderen teilen wollte. Es besteht auch die Gefahr, dass eben, weil beide Seiten ihre Rhetorik in diesen Tagen radikalisieren, dass die Hamas versucht sein wird, vielleicht im Gaza-Streifen einen islamischen palästinensischen Staat auszurufen. Aus der Logik der Hamas wäre das letztendlich ein Etappensieg auf dem versprochenen Weg zum endgültigen Sieg über das sogenannte zionistische Wesen. Also damit ist eigentlich die Vernichtung Israels gemeint.
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