Der Kampf um die Ghettorente

Von Julia Smilga · 19.03.2010
In Berlin kamen die Rentenversicherungsträger zusammen, um über die genaue Ausführung des Grundsatzurteils zu Ghettorente zu beraten. Der hat eine lange Vorgeschichte - mehrere Jahre lang haben die deutschen Rentenkassen sich gegen Zahlungen an Holocaust-Überlebende, die in Ghettos gearbeitet haben, gesträubt.
Trotz eines Urteils des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2002 warten Zehntausende ehemaliger NS-Ghetto-Arbeiter noch immer auf ihre Rente. Die meisten Rentenanträge wurden nämlich abgelehnt.

Bevor die Nazis beschlossen, alle Juden umzubringen, haben sie als billige Arbeitskräfte in Tausenden von Ghettos ausgebeutet. Die Löhne befreiten nicht vom Hunger, die Jobs nicht von der Willkür der SS. Doch wer Arbeit hatte, bekam in aller Regel etwas Geld oder Essensrationen. Im Ghetto Lodz in Polen gab es zum Beispiel eigene Werkstätten, erzählt Richter Jan-Robert von Renesse:

"Sie müssen sich das als eine riesige Fabrik von fast 120.000 um ihr Leben arbeitenden Menschen vorstellen, die die letzte Hoffnung hatten, wie das der Ghettovorsitzende Rumskovskij auch immer wieder beschwörend fast sagte - "Überleben durch Arbeit".
Und dennoch in makabrer Bürokratischer Perfektion ist von diesen Löhnen, die äußerst gering waren, von der deutschen Seite Geld an die deutsche Rentenversicherungsträger abgeführt worden ..."

Es wird geschätzt, dass die deutsche Sozialversicherung in den Kriegsjahren circa eine Milliarde Mark für die Arbeit der Juden erhalten hat. Dieses typische Absurdum garantierte eine monatliche Rente für die Arbeiter, die jedoch lange vor Erreichen des Rentenalters in die Gaskammern wandern sollten. Doch einige Wenige überlebten die Hölle. Und wollten ihre verdiente Rente haben.

Erst im Sommer 2002 wurde im Bundestag einstimmig das Gesetz zur sogenannten "Ghettorente" verabschiedet. Angesichts des hohen Alters der Betroffenen riefen Politiker nach schnellen und unbürokratischen Lösungen. Doch das Gegenteil ist eingetreten, sagt Richter Jan Robert von Renesse:

"Das besondere an diesem Gesetz war, dass es sehr intensiv dafür geworben wurde, auch von Seiten der Bundesregierung und der Rententräger, Anträge zu stellen, dass aber fast alle Anträge abgelehnt wurden. Das hat früher in der Rechtsgeschichte so nie gegeben. Es waren beinah 97 Prozent aller Anträge, die abgelehnt wurden."

Einige der abgelehnten Rentenanträge aus Israel landeten auf dem Tisch von Jan Robert von Renesse, Richter am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, das für Israel zuständig war. Der Haken an der Geschichte: eine Rente kann nur derjenige beziehen, der freiwillig gegen Entgelt eine Arbeit ausgeübt hat. Doch wie sollen die Überlebenden beweisen, dass sie sich in einer Zeit der systematischen Unterdrückung durch die deutschen Besatzer selbst für eine Arbeit entschieden haben? Und kann man aufgrund eines Tellers Suppe als Tageslohn eine Rente ausrechnen?

Die Rentenversicherer sagten " Nein". Außerdem bezweifelten sie erntshaft, ob das im Ghetto verdiente Geld ausreichte, um den Lebensunterhalt damals zu gestalten. Ein Absurdum? Nein, glaubt Richter von Renesse. Einfach Wissensmangel.

"Die Rententräger haben auch selber wie wir alle zunächst auch zu wenig über die Ghettos gewusst. Man muss sich vergegegenwärtigen, dass die Frage - wie sah denn der Alltag im Ghetto aus, bis vor wenigen Jahren eigentlich bis zu Beginn unserer Gerichtsverfahren ein weißer Fleck auf der Landkarte war. Sie haben allerdings auch leider als Rententräger gar keine eigenen Gutachter eingeholt.

Also sie haben die Möglichkeit, Historiker zu fragen gar nicht wahr genommen. Sondern haben sich nur auf ganz wenige Quellen wie Wikipedia gestützt, die natürlich alles andere als ausreichend oder seriös sind, um eine ordentliche Entscheidung fällen zu können."

Die Rentenversicherungen wählten schließlich den Weg des geringsten Widerstandes, indem sie den Stempel "abgelehnt" aufdrückten. Der Richter von Renesse kämpfte dagegen an. Er hat eine Gruppe von Historikern beauftragt, die allgemeinen Lebensumstände in Ghettos zu erforschen. Er ließ für jeden einzelnen Kläger in Archiven suchen, ob man doch vielleicht etwas über seine Arbeit findet?

"Und tatsächlich in einer ganz großen Zahl von Fällen - über 20 Prozent etwa - , ist es gelungen, individuelle Nachweise zu erbringen- einfach aufgrund der unglaublich ausgebauten Bürokratie der deutschen Täter zu dieser Zeit ... Aber dass andere ist, auch dass man mit den Menschen sehr lange und geduldig reden muss, um die Details rauszufinden ..."

Reden war schwierig. Die zum Teil über 80-jährigen Antragsteller, vorwiegend aus Israel und Amerika, wollten nicht nach Deutschland zu Gerichtsverhandlungen kommen. Zum einen, weil sie alt und gebrechlich sind, zum anderen, weil sie nicht in's Land der Mörder ihrer Familienmitglieder fahren möchten.

Dann kommt eben das Gericht zu Ihnen, sagte von Renesse und fuhr nach Israel, um vor Ort Gerichtsverhandlungen abzuhalten. Er und noch ein Kollege. Die einzigen von etwa 60 Richtern, die sich mit der Ghettorente in Deutschland beschäftigt hatten.

"Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass es ausreicht, irgendein Fragebogen hinzuschicken, was sonst die Praxis ist, sozusagen - 'nun schreib mal bitte auf drei Zeilen, wie war es im Ghetto. Vergiss mal bitte, dass deine Eltern da ermordet wurden, und sag doch, die Arbeit war doch schön?' Das kann ich im Grunde genommen als fast nur eine Verhöhnung empfinden, und das hätte ich nicht tun können, dann hätte ich mir nicht in den Spiegel ins Gesicht schauen können."

Etwa 120 israelische Kläger hat er sich angehört - jede Sitzung dauerte 2 Stunden. Auch die Vertreter der Rentenversicherung sollten dabei sein, kamen aber zuerst nicht, der Aufwand wäre angeblich zu groß. Von Renesse verdonnerte die Leiter zu 7000 Euro Ordnungsgeld - zu zahlen aus dem Privatvermögen. Bei der nächsten Sitzung waren die Vertreter dabei. Und als sie diese alten Menschen sahen und ihren Geschichten zuhörten, haben sie plötzlich alles geglaubt ...

Die Pionierarbeit von Renesse trug Früchte. Sein Historikerteam hat mit Hilfe der Archivforschungen und anhand der Gerichtsverhandlungen in Israel bewiesen, dass die Begriffe "eigener Willensentschluss" und "Entgeld" in Bezug auf Ghettoarbeit viel breiter definiert werden müssen. Unter den gegebenen Umständen des Ghettos reichte es aus, wenn der Antragsteller zwischen Arbeit und Hungertod entscheiden musste . Und "Entgeld" kann auch ein Teller Suppe bedeuten.

Am 02. Juni 2009 hat das Bundessozialgericht dementsprechend die Rechtsprechung geändert. Alle abgelehnten Bescheide werden nun neu entschieden.

Ohne den Einsatz von Richter von Renesse wäre das alles nicht möglich gewesen. Es sei nicht sein besonderer Verdienst, sagt er. Er habe schließlich nichts anderes gemacht, als nach der Wahrheit gesucht, was ja Aufgabe eines jeden Richters sei. Viele bedeutender waren für ihn die persönlichen Begegnungen mit den Antragstellern, sagt von Renesse:

"Am meisten beeindruckt haben mich die Überlebenden. Ihre spürbare Menschlichkeit, die eigentlich der größte Sieg ist über Hitler. Wenn ich an all die vielen Begegnungen im Gerichtssaal denke, meist gab es einen Ausdruck von Versöhnung, weil es für viele ganz wichtig war - diese Geschichte am Ende ihres Lebens noch mal berichten zu können.

Diese eindrucksvolle Menschen, die soviel durchgemacht haben und doch wieder ein neues Leben aufgebaut haben, und die die Güte besitzen oder die Größe einem Deutschen gegenüber so etwas wie Versöhnung zu zeigen - das hat mich tief beeindruckt, das wird immer ein Teil meines Lebens bleiben …"