Der junge Mann und das Meer

25.06.2009
Der 100-jährige Hilary erzählt rückblickend die Geschichte seiner großen Liebe, der er mit 16 Jahren begegnete, als er im Internat strengen Regeln unterworfen war. Finn hieß der Angebetete und lebte alleine in einer Hütte am Meer. Meg Rosoff vermeidet durch ihren Trick eines sehr alten Erzählers jegliches Klischee und jede Kitschigkeit. Im englischen Original heißt Rosoffs dritter Roman "What I was".
Hilary, der Erzähler von Meg Rosoffs neuem Roman, ist ein alter Mann. 100 Jahre alt behauptet er zu sein, und dieses Alter ist so unglaublich und beeindruckend wie seine ganze Geschichte. Er erzählt von seiner ersten Liebe, die er mit 16 erlebte, und der Roman zeigt, dass die schmerzlichsten Phasen des Lebens sich im Nachhinein manchmal als die glücklichsten erweisen können:

Nach zwei schulischen Katastrophen landet Hilary in einem düsteren Internat an der englischen Ostküste. Willkür, Dummheit und Zynismus beherrschen den Schulalltag. Kein Wunder, dass er sofort fasziniert ist von Finn, dem Jungen, der am Strand in einer Hütte ganz allein lebt, und dass er ihn beneidet um seine Freiheit. Die beiden vollkommen unterschiedlichen Jungen werden Freunde und mehr, denn der nachdenkliche und unbeholfene Hilary verliebt sich in den anmutigen, undurchschaubaren Finn. Einen Sommer lang erleben sie erfüllte Stunden miteinander, bis Hilary den Freund verraten muss, um ihn zu retten.

Internatsromane waren und sind in. Zwischen heiteren "Hanni und Nanni"-Geschichten, humorvollen Kästner-Adaptionen oder psychologisierenden Törless-Anspielungen gibt es ein weites Feld von Möglichkeiten.

Doch Meg Rosoff geht jedem dramatischen oder erotischen Klischee aus dem Weg: Dem brutalen Internatsalltag entflieht Hilary in seine Träume und ans Meer, und Finn begegnet seiner Hingabe und seinen unbeholfenen Annäherungsversuchen meist mit spöttischer Gelassenheit. Doch so zurückhaltend Finn bleibt, so überwältigend erlebt Hilary die Natur: Meer und Himmel sind nicht nur eindrucksvolle Kulisse, Sturm und Wellen nicht nur gefährliche Herausforderungen, sondern alle sind sie auch Spiegel seiner aufgewühlten Emotionen.

Dass dieser Roman so großartig gelungen und niemals kitschig ist, hängt unter anderem mit Meg Rosoffs Idee zusammen, einen alten Mann von "damals" erzählen zu lassen. Seine gelassene Distanz im Umgang mit den eigenen Gefühlen, seine klugen Analysen und glänzenden Formulierungen, sein mal wehmütiger, dann wieder spöttischer Humor - seine ganze eben Haltung verhindert jede Art von Pathos oder Sentimentalität. Liebevoll schildert und kopfschüttelnd kommentiert der alte Herr Begeisterung wie Naivität des 16-Jährigen, der er einmal war. Ein melancholischer Schimmer liegt über allen Erinnerungen - glücklichen wie schmerzhaften.

"Damals, das Meer" ist die Geschichte einer großen Verunsicherung. Sie erzählt von den Verwirrungen des Zöglings Hilary, der sich in einen Jungen verliebt, und von der lebenslangen Irritation eines Mannes, der zu spät erfuhr, dass alles doch völlig anders war. Meg Rosoff gibt ihrer Geschichte am Schluss eine ganz unerwartete Wendung und stellt damit alles Erzählte in ein neues Licht. Hilary braucht ein langes Leben, um dies zu verwinden. Er kann es nicht noch einmal leben und alles anders machen. Aber der Leser hat die Chance, diesen eindrucksvollen Roman ein zweites Mal zu lesen und neu zu verstehen.

Besprochen von Sylvia Schwab

Meg Rosoff: Damals, das Meer
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
Carlsen Verlag, Hamburg 2009
240 Seiten. Geb., 14,90 Euro
Ab 14 Jahren