"Der italienische Staat hat das Geld nicht"

Moderation: Joachim Scholl · 11.07.2008
Die Leiterin des Goethe-Instituts Neapel, Maria Carmen Morese, hat auf die verwahrloste Ausgrabungsstätte unterhalb des Vesuv hingewiesen. "Diese Stadt braucht eine behutsame kontinuierliche Pflege", sagte Morese.
Joachim Scholl: Jährlich zwei Millionen Besucher bewundern und bestaunen das antike Pompeji, die Ausgrabungsstätte unterhalb des Vesuvs, eine der großen kulturellen Zeugnisse der Vergangenheit. Aber zwei Millionen Besucher zu organisieren, darüber hat man sich in Italien über Jahrzehnte anscheinend zu wenig Gedanken gemacht. Das Resultat: Das Gelände versinkt im Schmutz, Diebe klauen, was das Zeug hält, unschätzbare Monumente zerfallen oder werden mutwillig zerstört. Die Situation ist so dramatisch, dass die italienische Regierung jetzt den Notstand für Pompeji ausgerufen hat. Zu Gast hier im Deutschlandradio Kultur ist jetzt Maria Carmen Morese, Autorin des Buches "Gebrauchsanweisung für Neapel". Dort leitet sie auch in Neapel das ansässige Goethe-Institut, und sie ist in Pompeji geboren. Frau Morese, vermutlich leiden Sie derzeit arg unter dem Zustand Ihrer Heimat. Droht Pompeji ein zweiter Untergang?

Maria Carmen Morese: Ja, so sagt man aber schon seit Jahren, seit mindestens zehn Jahren oder sogar noch länger, dass davon die Rede ist. Das Problem ist einfach die Größe der Stadt, 66 Hektar, davon 44 ausgegraben, und die ganzen Baudenkmäler stehen unter der Witterung – Sonne, Winter usw. (…) Jetzt die letzten Schätzungen sind, der Staat braucht 25 Millionen Euro im Jahr nur für den Schutz, ohne Personalkosten, ohne Sachkosten, also nur für den Schutz und den Erhalt der Ausgrabungen. Und wenn man sich überlegt, wie sind die Bilanzen des italienischen Staates im Kulturbereich, 0,29 Prozent der Bilanz des italienischen Staates gehen für die Kultur. Und von diesen 0,29 Prozent geht ganz wenig nach Pompeji. Die Finanzierungen sind seit Jahren blockiert.

Scholl: Jetzt sind wir schon bei den Ursachen. Bleiben wir noch mal bei dem Zustand. Was ist da zu beobachten, was ist so furchtbar? Sie sagten jetzt schon, die Witterung, aber es sollen ja eben auch katastrophale sanitäre Zustände herrschen, Hunde stromern über das Gelände, es gibt so gut wie gar keine Organisation.

Morese: Es fängt schon an, stellen Sie sich vor, Sie sind am Flughafen Neapel, haben ein Auto gemietet, fahren Sie nach Pompeji. Autobahnausfahrt, und dann stehen auf einmal an der Straße aggressive Parkwächter, die werden auch Cermisti genannt, Cermisti von (…), also rufen. Sie winken das Auto weg von der Straße, und man denkt als Ausländer zunächst, habe ich was verbrochen, habe ich eine Verkehrswidrigkeit begangen. Nein, weil das ist so, sie sind unglaublich aggressiv, die wollen die Menschen auf ihre Parkplätze lotsen. Und dann wird alles Mögliche verkauft an Souvenirs. Es fängt schon so an, also sie warten auf die Touristen wie der Vampir auf die Jungfrau quasi. Jeder will ein Stück vom Tourismuskuchen abhaben, es fängt schon so an. Dann stellt man sich in die Schlange für die Karten, und es wird ein Streik ausgerufen. Man weiß nicht, ob die Guide streiken, die Führer, oder die Ticketverkäufer. Das heißt, man ist 2000 Kilometer gefahren, um sich die Ausgrabungen anzuschauen, und dann kommt man nicht rein, weil es ist Streik, weil irgendwas dazwischengekommen ist. Oder eine andere Sache ist, es ist eine Personalversammlung, und die Ausgrabungen sind für eine Stunde geschlossen. Und die Touristen müssen zwei Stunden unter der Sommersonne stehen und warten, dass Einlass ist. Das heißt, man ist immer mit Imponderabilien konfrontiert. Das ist eine Sache, also konkret ist es der Mangel an Dienstleistungen. Und abends, wenn man aus den Ausgrabungen rausgeht, es gibt keine Restaurants, keine Hotels außerhalb des Geländes. Die Kioske machen schnell zu. Ja, das ist ein bisschen trostlos.

Scholl: Und soll es nicht so aussehen, als ob wir peniblen Deutschen also die laxen Italiener hier zur Ordnung rufen, aber dennoch wären so vergleichbare Ereignisse in Deutschland, glaube ich, sofort ein öffentlicher großer Skandal. Sie sagen, diese Zustände herrschen seit Jahren. Wie kann das angehen, dass man so lange gewartet hat, um jetzt Alarm zu schlagen, um den Notstand auszurufen? Ist man da in Italien weniger aufmerksam, interessiert das niemanden?

Morese: Nein, das kann man nicht sagen. Vor einem Jahr war eine Sendung in einem Privatsender, "La Sette" heißt sie, und da ist quasi der Skandal ausgebrochen. Am nächsten Tag war in allen Zeitungen, das war im Oktober 2007, war in allen Zeitungen, Ruin der Ruinen, Ausverkauf Pompeji. Nein, also seit Jahren ist davon die Rede, und immer wieder unternimmt der italienische Staat einen Versuch. Und bisher sind alle Versuche gescheitert, weil es ist ein sehr komplexes Problem.

Scholl: Pompeji droht der zweite Untergang. Im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ist die Leiterin des Goethe-Instituts von Neapel, Maria Carmen Morese. Nun hat die italienische Regierung jetzt die Notbremse gezogen, den Notstand verhängt, Hilfsmaßnahmen angekündigt, Gelder sollen fließen, ein Sonderbeauftragter soll auf Geheiß von Kulturminister Sandro Bondi die Malaise richten, heute wurde er eingesetzt. Wird das nach Ihrer Einschätzung danach was?

Morese: Wir hoffen, wir hoffen es sehr. Schauen Sie mal, im letzten Herbst, da hat eine amerikanische Finanzdienstleistung rausgefunden, dass nur fünf Prozent der Potenzialitäten dieser Ausgrabungen genutzt werden. Man will hoffen. Aber der Leiter der Ausgrabungen ist ein Archäologe, eine sehr kompetente Person, versucht seit Jahren, auf die Situation aufmerksam zu machen, und sowohl die Gemeinde Pompeji als auch der italienische Staat haben bisher nur zögernd reagiert. Und ich denke jetzt, die Reaktion des Kulturministers Bondi ist quasi, kommt, sagen wir so, 19 Monate später als eigentlich das Kind, was schon längst in den Brunnen gefallen.

Scholl: Ich meine, Pompeji zählt zu den bedeutendsten Weltkulturstädten, ist natürlich auch als Weltkulturerbe der UNESCO geadelt. Hat die Kommission diesen Missstand eigentlich die ganze Zeit übersehen? Es gibt ja auch eine Rote Liste für gefährdete Kulturdenkmäler. Oder hat die italienische UNESCO-Kommission da keinen Blick dafür gehabt?

Morese: Nein, soweit ich weiß, es gibt so viele Schreiben, und es sind Institutionen. Institutionen, die Verwaltung, die Staatsverwaltung ist langsam. Und aber jetzt, Sie müssen sich vorstellen, es ist natürlich, wenn man sagt, streunende Hunde, katastrophale hygienische Zustände, das ist nicht das große Problem. Erst mal das mit den hygienischen Zuständen, das stimmt nicht, es gibt moderne WC, Toiletten. Und die frei laufenden Hunde, das ist tatsächlich ein Problem. Einige sind sehr süß, muss ich sagen, sehr süße Hunde. Soweit ich weiß, es gibt auch einen deutschen Autor, der hat ein Buch, glaube ich, im Rowohlt-Verlag vor zwei, drei Jahren veröffentlicht über die Hunde von Pompeji. Also die Hunde sind nicht das Problem. Das Problem ist einfach die fehlende Pflege. Diese archäologische Stätte ist einmalig, es ist wunderschön. Stellen Sie sich vor, Sie sind auf dem Forum Romanum und sehen den Umriss des Vesuvs und diese Säulen. Es ist grandios. Und diese Stadt braucht eine behutsame kontinuierliche Pflege. Und der italienische Staat hat das Geld nicht. Deswegen auch einige (…) also noch 22 Hektar müssen ausgegraben werden. Und das sind ausländische Stiftungen, und auch Thyssen unterstützt zum Beispiel eine Ausgrabung. Sehr viele aus Deutschland kommen, viele deutsche Archäologen kommen nach Pompeji und arbeiten dort.

Scholl: Sie glauben, das archäologische Problem ist weitaus größer, das konservatorische, dass da nicht genug dafür getan wird. Besteht da kein Gefühl dafür beim italienischen Staat? Ich meine, Italien hat nun mal diese gigantischen Altertumsstätten, und die sind natürlich auch ein touristisches Zugpferd und als kulturelle Bedeutung ja gar nicht überschätzbar. Da muss man doch eigentlich denken, da schlägt unser Herz höher?

Morese: Ja, das stimmt, der italienische Staat hatte so ein Konzept letztes Jahr unter der Regierung Prodi verabschiedet, dass quasi der Staat sich nur auf die Pflege konzentriert, während die modernen Dienstleistungen wie museumspädagogischer Dienst usw. von Privaten angeboten werden. Jetzt gibt es Berlusconi. Sie erinnern sich sicherlich noch, Mitte der 90er-Jahre wollte Berlusconi Pompeji in eine Art Disneyland verwandeln, das heißt, wo quasi die Einwohner Pompejis, die Mitarbeiter der Ausgrabungen als alte Römer da sich selbst spielen. Und natürlich die Angst der Neapolitaner, der Pompejaner ist jetzt groß, weil Berlusconi ist wieder da. Und der Minister Bondi, was hat der gemacht? Der hat Warner Bros. diesen schönen Kuchen Pompeji angeboten.

Scholl: Warner Bros, der Filmgesellschaft?

Morese: Genau, der Filmgesellschaft. Und das ist halt jetzt, viele Intellektuelle haben in den Zeitungen alarmierende Berichte geschrieben und gesagt, Vorsicht, was passiert jetzt hier, sollen die Neapolitaner jetzt wie in Disneyland spielen.

Scholl: Also nun Pompeji auch noch in einem anderen Notstand. Das war Maria Carmen Morese, Leiterin des Goethe-Instituts und Pompejanerin von Geburt. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und das Gespräch.

Morese: Danke und ciao.