Der Holocaust in Griechenland, Teil 1

Mit dem Holocaust wurde das jüdische Thessaloniki ausgelöscht

Holocaust-Denkmal in Thessaloniki
Ein Holocaust-Denkmal erinnert in Thessaloniki an die ermordeten jüdischen Mitbürger. © picture alliance/dpa/Foto: Giannis Papanikos
Von Jens Rosbach  · 24.08.2018
Während der deutschen NS-Besatzung wurden rund 86 Prozent der griechischen Juden ermordet. Die schrecklichen Jahre werden ebenso verdrängt wie die schwierige Frage der griechischen Kollaboration bei den Kriegsverbrechen.
Am Sonntag, dem 27. April 1941, meldete das Oberkommando der Wehrmacht, dass deutsche Truppen Athen erreicht und auf der Akropolis die Hakenkreuzfahne gehisst haben!
Die deutsche Wochenschau jubelt 1941: Nachdem das faschistische Italien es nicht geschafft hatte, Griechenland zu erobern, überrollt nun die Wehrmacht innerhalb weniger Wochen Athens Armee. Auch das nordgriechische Thessaloniki wird besetzt, das legendäre "Jerusalem des Ostens", in dem Zweidrittel der 70.000 bis 80.000 griechischen Juden leben. Das Militärsonderkommando "Rosenberg" beginnt, Namenslisten der jüdischen Stadtbewohner anzulegen und jüdische Schriften zu rauben. Im Juli 1942 werden schließlich alle männlichen Juden zu - teilweise unmenschlicher - Zwangsarbeit eingezogen.

Deportation nach Auschwitz

Der Grieche Heinz Kounio, hat die schrecklichen Ereignisse als einer der wenigen überlebt. Der 91 jährige erinnert sich: "Mein armer Vater hatte ein zu kurzes Bein, er sagte: "Wie soll ich nur dahin gehen, sie werden mich töten." "Ah, Salvator", sagte meine Mutter zu ihm, "das schaffen wir, mach dir keine Sorgen." Woher sollten sie aber wissen, was dann geschehen würde, woher wissen, dass wir alle zu Skeletten werden würden. Der Arme zog sein Bein nach, er konnte nicht laufen."
Überlebende Kinder im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau nach der Befreiung durch die sowjetische Armee
Überlebende Kinder im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau nach der Befreiung durch die sowjetische Armee© imago/ITAR-TASS
Heinz Kounio musste als Jugendlicher miterleben, wie Judensterne verteilt, jüdische Wohnungen beschlagnahmt und Gettos eingerichtet wurden. 1943 wird Kounio zusammen mit seiner gesamten Familie nach Auschwitz deportiert. Besonders perfide: Die Fahrkarten der Deutschen Reichsbahn müssen die Häftlinge selbst bezahlen. "Die Waggons waren geschlossene Waggons. Wir waren sehr viele in einem Waggon und konnten kaum atmen. Männer, Frauen, Babys, Alte, nirgends konnte man sich hinsetzen", sagt Kounio.

86 Prozent der griechischen Juden ermordet

Sie weinten. Der Zug hielt nicht an, denn die Fahrt dauerte sechs Tage. Außen war Stacheldraht. Es gab einen großen Bottich, in den man urinierte, man uriniert ja vor Angst. Und Wasser, Wasser, Wasser, man schrie nach Wasser, so durstig war man.
Dazu Kounio: "Kurz bevor wir Auschwitz erreichten, sah ich durch das Fenster nicht einen, nicht zwei, nicht drei, nicht vier - es waren fünf riesige hohe Schornsteine. Und über dem schwarzen Rauch stieg weißer Rauch auf - das waren die Aschenreste, das waren die Seelen der Menschen."
Die Deutschen ermordeten rund 86 Prozent der 70.000 bis 80.000 griechischen Juden. Bis heute ist kaum bekannt, dass griechische Beamte bei der Verhaftung und Enteignung mithalfen. Die griechische Gendarmerie trieb die Juden in Thessaloniki zur Zwangsarbeit zusammen, griechische Polizisten bewachten die jüdischen Gettos und griechische Sachbearbeiter verwalteten mit das geraubte jüdische Eigentum.

Kollaboration vieler Griechen

Die Stadtverwaltung von Thessaloniki machte sogar mit dem zuständigen deutschen Kriegsverwaltungsrat Max Merten gemeinsame Sache, einem korrupten Kriegsverbrecher. Denn die Kommunalbeamten hatten es bereits seit Jahren auf den jüdischen Friedhof der Stadt abgesehen, weil sie dort eine Universität bauen wollten. Nun, mithilfe der Nazis, raubten sie das Grundstück, das mit seinen 400.000 Gräbern den größten jüdischen Friedhof Europas umfasste.
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Das heutige Thessaloniki © Barbara Eckle
Tobias Blümel hat die Schoah in Griechenland und die Kollaboration der Bevölkerung erforscht. Er erinnert sich: "Die Grabplatten wurden teilweise für den Straßenbau, für die Reparatur von Kirchen, für Schwimmbecken, zu Dekorationszwecken und dergleichen benutzt. Teilweise sind frisch Beerdigte der Pathologie zur Verfügung gestellt worden, zu Forschungszwecken. Oder auch teilweise den Hunden zum Fraß vorgeworfen worden."
Der Historiker, der am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg assoziiert ist, betont, dass viele Griechen keine Scheu gehabt hätten, beim neu geschaffenen Amt zur Verwaltung jüdischen Besitzes in Thessaloniki um konfiszierte Wohnungen, Möbel und Geschäfte zu bitten. Dazu Blümel: "Da meldeten sich auf einmal haufenweise Griechen, ich habe selber im Archiv eine ganze Menge Anträge in gebrochenen Deutsch gelesen: "Ich hätte ganz gern den Laden von Herrn Salomon" und so weiter und so fort. Also wenn man sich die Reaktion auf die jüdischen Restitutionsansprüche nach dem Krieg ansieht, dann sieht man, dass über 3000 Leute sich an dem Eigentum dort bereichert haben."

Das jüdische Thessaloniki zerstört

Mit dem Holocaust wurde das jüdische Thessaloniki ausgelöscht. Jahrhundertelang war es ein blühendes Zentrum der sephardischen Juden gewesen. Sie stammten von der iberischen Halbinsel und sprachen jüdisch-spanische Dialekte, Ladino und Djudezmo. Die Migranten hatten ab dem 15. Jahrhundert vor der spanischen - und anschließend vor der portugiesischen Krone - fliehen müssen, die damals alle Nichtchristen verfolgten.
Nikolas Pissis ist Historiker an der Freien Universität Berlin und hat sich mit dieser Zeit intensiv beschäftigt: "Die spanische Krone stellte die Juden vor die Wahl, entweder die christliche Religion anzunehmen oder zu fliehen", sagte er. "Aber in der Folgezeit wurden auch die christianisierten Juden ausgewiesen, weil man ihnen die Konversion nicht abgenommen hat - und das ist ein Prozess, der auch die Muslime betraf."
Nach Angaben des griechischen Wissenschaftlers wurden die sephardischen Flüchtlinge zu jener Zeit vom osmanischen Sultan willkommen geheißen. Der muslimische Herrscher war ein Gegenspieler der christlichen Spanier. Er versprach sich von der jüdischen Einwanderung einen Handels- und Wirtschaftsaufschwung. Dazu Pissis: "Sowohl die Juden von Spanien als auch die Muslime Spaniens sahen im osmanischen Sultan ihren Erlöser. Das heißt, es gab auch in der Literatur des 16. Jahrhunderts Vorstellungen vom osmanischen Sultan als den von Gott bestimmten Instrument für die Erlösung der Juden und die Rache an die spanischen Könige, die sie vertrieben haben."

Griechischer Antisemitismus

Das jüdische Leben in Thessaloniki war bunt. Es gab verschiedensprachige Synagogen – mit Zuwanderern aus Portugal, Neapel, Sizilien, Sardinien und der Provence. Nach und nach stellten die Juden die Bevölkerungsmehrheit und dominierten den Handel. Die einheimischen orthodoxen Christen waren bald in der Minderheit und fühlten sich benachteiligt, sodass das jahrhundertelange friedliche Miteinander auch immer wieder von Spannungen durchbrochen wurde. "Diese Spannungen, dieser Wettbewerb, wurde auch kulturell und religiös artikuliert, durch antijüdische Stereotypen", sagte Pissis. "Also die Juden waren im christlichen Verständnis diejenigen, die Christus nicht anerkannt haben, die ihn sogar ermordet haben. Man hat zum Beispiel vielerorts den Brauch, zu Ostern eine Puppe, die man Judas nennt, zu verbrennen – was ein Symbol für das Judentum ist. Solche Stereotypen."
Bischöfe mehrerer christlich-orthodoxer Kirchen feiern (19.6) in einer Kirche auf der griechischen Insel Heraklion gemeinsam eine Messe.
In der griechisch-orthodoxen Kirche sind antisemitische Stereotype teilweise bis heute Teil der Liturgie. © AFP PHOTO/COSTAS METAXAKIS
Dazu Blümel: "Da wird eine Puppe an einen Galgen gehängt meistens oder auf einen Scheiterhaufen gestellt und dann im Rahmen einer großen Feier wird dann dieser Judas angezündet bzw. manchmal ist es auch so, dass Feuerwerkskörper in diese Puppe hineingesteckt werden und der explodiert dann halt so richtig." Der Historiker hat eine Dissertation über den griechischen Antisemitismus geschrieben und betont, dass die griechisch-orthodoxe Kirche ihr antijüdisches Oster-Ritual in einigen Gemeinden bis heute pflege. "Die ganze Oster-Liturgie, beispielsweise in der orthodoxen Kirche verweist auf das "Zähneknirschen der allerbösartigstes Hebräer-Geschlecht" und das "mordende und mit Blut besudelte Israel"", sagt Blümel.

Die Rolle der orthodoxen Kirche

Das osmanische Thessaloniki wurde 1912, im Zuge der Balkankriege, von den Griechen besetzt. Und die griechische Einwanderungspolitik führte dazu, dass die Mehrheitsverhältnisse in der Stadt nach mehr als 400 Jahren wieder kippten: 1923 wurden, nach dem verlorenen Krieg mit den Türken, in Thessaloniki rund 100.000 orthodoxe Christen aus dem osmanischen Reich angesiedelt - kleinasiatische Flüchtlinge. "Damit wurde aus einer überwiegend jüdischen Stadt eine mehrheitlich christlich-orthodoxe Stadt", sagte Blümel. "Und es formte sich schnell – wie soll man sagen – Neid." Der Neid habe sich gegenüber der großen jüdischen Handelsklasse entwickelt, die es zu dieser Zeit in Thessaloniki noch nicht gegeben habe. "Ja, und aus diesen kleinasiatisch griechisch-orthodoxen Flüchtlingen entstand die EEE - die griechische Nationalunion, die stringent antisemitisch war."
Diese paramilitärische, faschistische Nationalunion hatte mehrere tausend Mitglieder und ging mit Gewalt gegen Juden vor. Angespornt durch Hetze in den Medien, kam es 1931 in Thessaloniki sogar zu einem antisemitischen Pogrom. Somit konnten die Deutschen, als sie 1941 in Griechenland einmarschierten, an eine gewisse Judenfeindschaft in der Bevölkerung anknüpfen.

Lesen und hören Sie hier den zweiten Teil unseres Beitrags.

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