Der Harem nach dem Tod

20.06.2007
Ein Mann und drei Frauen, die offenbar recht vertraut in einem Haus in einer kanadischen Kleinstadt zusammenleben. Das kann nicht gut gehen, denken die Einwohner des Städtchens im Roman "Glück". Und als der Mann überraschend stirbt, löst sich die Frauengemeinschaft auf. Mit sanfter Ironie und großem Respekt für ihre Figuren erzählt Joan Barfoot von Eingrenzung und Ausgrenzung.
Ein Mann und drei Frauen, die offenbar recht vertraut in einem Haus in einer kanadischen Kleinstadt zusammenleben - da fragt sich die Leserin zunächst fast automatisch, in welchem Verhältnis diese vier zueinander stehen? Anders als die Leser, die vom Roman lange sehr geschickt im Ungewissen gehalten werden, meinen die konservativen Einwohner des Provinznests ganz genau zu wissen: Sie haben einen Harem in ihrer Mitte, der Mann lebt offen mit Ehefrau und zwei Geliebten zusammen. Und das kann man nicht tolerieren, um so weniger, wenn die Ehefrau eine Künstlerin ist, die "anstößige" Bilder malt ...

Joan Barfoots Roman "Glück" ist dennoch kein Roman über das alte Thema: Wie kann das Verhältnis zwischen Bohémien und bürgerlicher Welt sein - auch wenn das Thema am Rande eine Rolle spielt. Es ist aber ein Roman über Eingrenzung und Ausgrenzung, über Selbst-Definitionen und die Positionierung unterschiedlicher Personen gegenüber der Gesellschaft, in der sie leben - und bestehe diese auch nur aus vier Personen.

Vor allem aber ist es ein Roman über das, was geschieht, wenn die Konstellation in dieser Gesellschaft sich ändert. Er beginnt damit, dass der Mann, Philipp, eines Nachts völlig unerwartet stirbt. Und der Roman erzählt nichts weiter als das, was sich in den folgenden Tagen bis zur Beerdigung abspielt. Das hört sich banal an und ist doch hochbrisant, atemberaubend spannend und oft sogar komisch. Denn es gelingt der Erzählerin, aus dieser existentiellen Grundsituation einen ganzen (Mikro-)Kosmos menschlicher Charaktere, Beziehungen und Konflikte entstehen zu lassen.

Durch die "unerhörte Begebenheit" dieses Todes wird ein unerwarteter Prozess in Gang gesetzt, der alles verändert und doch konsequent aus allem folgt, was die einzelnen Personen an individueller Geschichte und Erfahrung mitbringen. Keine (weiteren) Katastrophen geschehen, aber der eine oder andere Abgrund tut sich auf - und am Ende ist alles anders, die Gemeinschaft hat sich aufgelöst, und jede Frau ist andere Konstellationen eingegangen.

Am Ende wissen wir auch, wie die Frauen zueinander stehen und wie sie zu Philipp gestanden haben, wir wissen, wer sie sind und welche sich warum wie verhält. Wir meinen, diese Frauen zu kennen - und auch Philipp, den verstorbenen Hahn im Korbe, der keineswegs nur sympathisch war.

Ebenso ist keine der Frauen nur sympathisch. Es sind Personen mit Ecken, Kanten und Abgründen, mit ganz normalen Egoismen, Lebenslügen, Aufrichtigkeiten, Loyalitäten und Schönheiten. Verurteilt wird keine der Figuren, im Gegenteil: Sie alle werden von der Erzählerin mit sanfter Ironie und großem Respekt behandelt.

Die stilistische Vielfalt, der Bilderreichtum und die -trotz der existentiellen Themen - Leichtigkeit des Erzählens machen diesen Roman zu einem ganz besonderen Lesevergnügen.


Joan Barfoot: Glück
aus dem Englischen von Gesine Strempel
Atrium Verlag. Zürich 2007
351 S.