Der Geiz

Von Wolfgang Sofsky · 05.11.2006
Sie sind kaum der Rede wert, die Schwachsichtigen, die schlecht geben und schlecht leben, die Geizigen und Knauser, die sich selbst ums gute Leben bringen. Sie raufen sich um Güter, die ihnen der Zufall anvertraut hat, häufen sie auf und bewahren sie vor fremder Gier und eigener Begierde. Wachsam hocken sie auf ihren Schätzen, umklammern mit beiden Fäusten die Geldkatzen und werden von Tag zu Tag älter und dürrer.
Der Geiz ist eine hässliche Sünde. Er macht den Menschen klein und bitter. Geiz entfacht keine Energie, verführt nicht einmal zu bösen Taten. Wie die Trägheit, die Völlerei und Sinneslust hat er seinen Ursprung in moralischer Schwäche. Anders als der Habsüchtige will der Geizige nicht wachsen, will nicht zusammenraffen, was sich auftreiben lässt. Er will nur behalten, was er hat. Nichts will er mehr aus der Hand geben, geschweige denn verschenken. Geiz ist keine Sünde des Handelns, sondern des Unterlassens. Nicht Gier, sondern Verzicht, Verbot, Versagung ist seine Devise. Geiz verschafft keine Befriedigung, sondern lässt die Lebenskräfte verdorren.

Zuerst versündigt sich der Geizige an sich selbst. Er versagt sich den Genuss der Güter und vegetiert unter dem Maß der eigenen Bedürfnisse. Er bewacht seine Schätze, ohne auch nur im Traum an ihren Gebrauch zu denken. Nichts vermag er preiszugeben, weder für andere noch für sich. In jedem Fremden sieht er einen Dieb und in sich selbst einen Schmarotzer. Nicht einmal die unschuldigsten Vergnügungen gönnt er sich, wenn er sie nicht unentgeltlich erhalten kann. Sich selbst ist er nicht einen einzigen Heller wert. So führt er ein armseliges Leben inmitten seiner Glücksgüter. Obwohl sie ganz in seiner Gewalt sind, vermag er nicht über sie zu verfügen. Der Besitz bestimmt seine ganze Existenz.

Einst pries man den Geiz als Tugend der Sparsamkeit. Genügsam, fleißig und bescheiden hatte der strebsame Bürger zu sein. Er sollte keine Schuld auf sich laden - und keine Schulden. Wer für den Ernstfall vorsorgen wollte, legte regelmäßig Notgroschen beiseite. Wer sein Heil am beruflichen Erfolg und persönlichen Verdienst ablas, der verzehrte die Gewinne nicht, sondern akkumulierte sie. Der historische Aufstieg des Kapitalismus stützte sich weniger auf Habgier als auf Geiz. Profite wurden ins Geschäft investiert und niemals verbraucht. Kosten und Löhne wurden gedrückt. Verschwendung und Luxus waren dem frommen Bürger verdächtig. Der solide Kaufherr griff niemals das Kapital oder die Zinsen an, sondern allenfalls die Zinseszinsen.

Heute wirkt der vertrocknete Pfennigfuchser wie eine Karikatur aus vergangener Zeit. Spätestens seit der Erfindung der Kreditkarte gilt in allen Klassen das Prinzip der Verschwendung. Die Moral des Vergnügens hat die Tugendmoral entthront. Die Ratenzahlung ist kein Zeichen finanzieller Unsicherheit mehr, sondern ein Beweis hedonistischer Cleverness. Schulden verursachen keine schlaflosen Nächte, an dem geplatzten Scheck ist nicht der faule Kunde, sondern die Bank schuld. Ein schmales Budget ermuntert nicht zur Sparsamkeit, sondern provoziert Appelle an die Freigebigkeit des Staates.

In Randkulturen paart sich die Kritik des Konsumismus mit einer neuen Form des Geizes. Frei von Konsumzwängen frequentiert man Flohmärkte, Discountläden und Billigketten, propagiert das korrekte Leben zu niedrigen Preisen und feilscht um jeden Cent. Was man will, das will man am liebsten umsonst. Etwas für nichts, ist der Leitspruch der neuen Geizhälse. Für fairen Tausch sind sie nicht zu haben. Bestünde die Gesellschaft nur aus solchen Zeitgenossen, käme die Wirtschaft sofort zum Erliegen.

Die Knauserei verletzt nicht nur die Pflicht gegenüber sich selbst. Sie vergeht sich auch an anderen. So sehr ist der Geizige in sich befangen, dass ihm jedes Vergnügen am Glück anderer abgeht. Geiz zerfrisst den sozialen Sinn. Er treibt die Menschen in die Einsamkeit. Nichts ist dem Geizhals fremder, als dem anderen etwas abzugeben. Zu Gabe, Geschenk und Großzügigkeit ist er außerstande. Sein Horizont ist eng, sein Herz klein. Nur ein einziger hat darin Platz, nämlich er selbst.

Man sage nicht, dass Freigebigkeit heute weit verbreitet sei, trotz aller Spenden, trotz der vielen Beteuerungen von Mitleid und Betroffenheit. Die konsumistische Verschwendung ist mit Engstirnigkeit und Egoismus ohne weiteres vereinbar. Großzügig ist der moderne Verbraucher nur gegenüber sich selbst. In jedem Fremden wittert er zuerst den Betrüger, der es aufs kollektive Staatsvermögen abgesehen hat.

Das Gegenteil des Geizes ist die seltene Tugend der Großherzigkeit. Sie ist keinesfalls mit der lauthals propagierten Solidarität eigennütziger Interessenten zu verwechseln. Freigebig sein bedeutet, frei von sich selbst zu sein, frei von seinen kleinen Feigheiten, frei von seinen Eifersüchteleien, frei auch von dem Drang, alles sogleich gegenzurechnen. Der Großherzige schielt nicht nach Erwiderung oder gerechter Vergeltung seiner Gaben. Anstatt zu fordern, zu nehmen und weiter zu klagen, erfreut er sich an der Geste des Schenkens. Der Geizhals dagegen wittert nur die Verpflichtung und verweigert die Gabe, weil er sofort die Kosten der Gegengabe überschlägt. Er gönnt sich nicht einmal das Geschenk, das ihn zu nichts verpflichtet. Schon für die Geste des Dankes ist er zu geizig.

Mit dem Verschwender teilt der Geizhals die Verachtung der Güter. Was der eine sofort vergeudet, ist für den anderen alles gleich wert, wenn es nur in seinem Besitz ist. Im vierten Kreis der Hölle sind sie alle versammelt, diejenigen, die schlecht sparten, und jene, die schlecht gaben. Enorme Felsblöcke rollen sie gegeneinander, bis in alle Ewigkeit. Unscheinbar sind diese Gestalten, sie tragen keine Namen und finden keine Beachtung. Wie sie als Lebende keinen Unterschied zwischen den Gütern kannten, so sind sie selbst im Tod nicht mehr zu erkennen.

Wolfgang Sofsky, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte u.a.: "Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager" (1993), "Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung – Koalition" (mit Rainer Paris, 1994) und "Traktat über die Gewalt" (1996). 2002 erschien "Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg", und zuletzt der Band "Operation Freiheit. Der Krieg im Irak".