Der Gang zum Discounter als Knotenpunkt des Lebens

26.01.2012
Seitdem das größte Nähmaschinenwerk Europas in Wittenberge 1990 schließen musste, haben viele Menschen in der brandenburgischen Stadt keine Arbeit mehr. Soziologen sammelten nun Material über das Leben am sozialen Abgrund. Das Ergebnis ist beeindruckend, beunruhigend und bewegend.
Es ist fast 80 Jahre her, dass zum ersten Mal ein Ort untersucht wurde, dem die Arbeit abhanden gekommen war: Marienthal, ein Dorf nahe Wien. Soziologen verfassten dort die erste, umfassende Studie über ein Dorf ohne Arbeit, das in den Zustand einer müden Gemeinschaft gefallen war. Auch im brandenburgischen Wittenberge fehlt es an Arbeit. Die Mehrheit der bis 1990 bei "Veritas", dem größten Nähmaschinenwerk Europas, Beschäftigten wurden durch dessen Schließung arbeitslos. Fast eine Generation später, zwischen 2007 und 2010, entstand die Studie "Überleben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge".

Soziologen mehrerer Universitäten sammelten Material darüber, wie es sich am Abgrund lebt. Und sie luden Künstler dazu ein, ihre Studien zu nutzen, um das Beobachtete in Szene zu setzen, in Bilder, Performances und Theaterstücke. Ein Ergebnis dieser Forschungen ist dieses Buch, das Studie, Fotoband, Textheft und Reportage zugleich ist, ein erhellendes, bedrückendes, nachdenklich machendes Dokument, für das die Fäden zusammengeknüpft wurden, die durch das Schließen von "Veritas" gerissen waren. Die Geschichte vom Ende der Industrie hätte auch anderswo erzählt werden können. Wittenberge war deshalb so interessant, weil hier das Ende mit einem abrupten Systemwechsel zusammenfiel und die Stadt zwischen Berlin und Hamburg vom Musterkind des Sozialismus in die Rolle des armen Vetters im Kapitalismus fiel.

Die Forscher untersuchten verschiedene Themenkreise, wie Familie, Zeit, Heimat oder Knotenpunkte. Wer nicht den Mut hatte, die Stadt zu verlassen, der konnte in Wittenberge überleben, nicht im Elend, aber im Angesicht eines Sozialstaats, der "Anrechte verleiht, aber Träume nimmt", wie der Soziologe Heinz Bude formuliert. Eltern senden doppelte Botschaften an ihre Kinder aus: Geht weg von hier, sonst wird nichts aus euch, lautet die eine. Bleibt hier, verlasst uns nicht, so die andere. Und auch die Kinder denken ambivalent: Macht doch endlich was!, fordern sie von den Eltern, aber auch: Was sollt ihr schon machen?

Anders als früher liegen die Knotenpunkte des Lebens für die "Überlebenden" in Wittenberge nicht mehr an den Wegen zur Arbeit, sondern unterwegs zum Einkaufen bei Discountern. Auch jene, die wenig Geld haben, fühlen sich dort gleichberechtigt. Was an Geld fehlt, wird durch Zeit ersetzt. Und so wird der Gang zum Discounter gedehnt, das Gefühl genossen, am Leben teilzunehmen, nicht stigmatisiert zu sein, wie vor der Suppenküche. Im Buch werden auch die Geschichten von den Trotzigen erzählt, die immer wieder Neues probieren. Da verleiht einer Autoanhänger und betreibt zugleich eine Heiratsvermittlung für Frauen aus Ost-Europa.

Es ist kein eindeutiger Befund, der erhoben wird, sondern ein vielstimmiger Chor, wie er auch in einem der vier Theaterstücke auftaucht, die aus dem Rohmaterial entstanden und am Berliner Maxim-Gorki-Theater inszeniert und aufgeführt wurden. Wittenberge wird nicht beurteilt, sondern erfasst, in einem Zustand aus Leere, Mangel, Vergleichgültigung - und Trotz. Das Buch "Überleben im Umbruch" sei jedem Lokalpolitiker empfohlen, der nicht in einer gewachsenen Stadt mit sicherer Zukunft agiert, denn es ist wie das Projekt: Beeindruckend. Beunruhigend. Bewegend.

Besprochen von Liane von Billerbeck

Heinz Bude, Thomas Medicus, Andreas Willisch (Hg.): Überleben im Umbruch. Am Beispiel Witteberge
Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft
Erschienen in der Hamburger Edition
Hamburger Institut für Sozialfoschung
360 Seiten, 39,90 Euro.