Der Fotograf der Obdachlosen

Moderation: Ulrike Timm · 23.02.2012
Seit vielen Jahren fotografiert der Ukrainer Boris Mikhailov Armut und Umweltzerstörung in der früheren Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten. Nun ist eine Retrospektive seiner Arbeiten in Berlin zu sehen. Für gute Motive müsse man seine Themen "auf der Straße" suchen, sagt er.
Ulrike Timm: Seine Bilder werfen ein Blitzlicht ins Dunkel - Boris Mikhailov fotografierte das Elend in der früheren UdSSR, Umweltzerstörung und Armut, er wurde zensiert und hatte vor 1990 keine öffentliche Ausstellung. Und als das Riesenreich vor 20 Jahren zerfiel, da war Boris Mikhailov plötzlich berühmt - weltberühmt. Er gilt als wichtigster Fotograf der damaligen Sowjetunion, und auch im postkommunistischen Zeiten blieb er seinen Themen treu.

Die berühmtesten Fotografien von Boris Mikhailov, die zeigen Obdachlose in der Ukraine, ihre Körper voller Narben und Hautkrankheiten, sie zeigen den Kampf um die bloße Existenz, ein Leben, das mehr ein überleben ist. Menschen, die sich Tag für Tag neu durchschlagen, zum Beispiel als fliegende Händler. Heute pendelt Boris Mikhailov zwischen Berlin und der Ukraine hin und her. In Berlin wird heute eine große Ausstellung mit seinen Werken eröffnet, und jetzt ist er unser Gast. Schönen guten Tag, Boris Mikhailov.

Boris Mikhailov: Tag.

Timm: Sie haben mal gesagt, ein guter Fotograf, der müsse sein wie ein Hund, wie ein Straßenköter, nur dann gelängen ihm wirklich gute Bilder. Hat diese Haltung die berühmte Serie mit den Obdachlosenbildern eigentlich mit ermöglicht, erst möglich gemacht?

Mikhailov: Man muss nicht unbedingt jetzt die Spürnase eines Hundes haben, um ein guter Fotograf zu sein, aber es hilft unheimlich, wenn man einfach immer auf der Suche ist, fortwährend auf der Suche, wenn man nach den Bildern sucht, wenn man seine Themen auch auf der Straße verfolgt. Man muss einfach sehen, wie das Leben sich abwickelt, und nie Ruhe zu geben und nie aufzuhören, das ist eigentlich meine Stärke. Ich bin immer dem Leben hinterher gewesen, und zwar hat das damals angefangen in der Ukraine, vor 40 Jahren, und so mache ich es bis heute.

Timm: Aber wie haben die Menschen denn damals reagiert auf die Bitte, ich möchte dich fotografieren - Menschen, denen es erkennbar ganz schlecht ging.

Mikhailov: Also hier, glaube ich, sollte man unterscheiden, wie es früher mal war, noch zu Sowjetzeiten. Wenn man da jemanden fotografieren wollte, das hat schon sehr oft zu Komplikationen geführt: Was bist du denn für einer? Wieso fotografierst du mich? Was soll denn das? Hast du denn eine Erlaubnis, wer hat dir überhaupt erlaubt, hier zu fotografieren? Da wurde auch mal die Miliz geholt, also die Polizei, die damalige Polizei. Also das war schon eine ganz heikle Geschichte, wenn man damals Menschen fotografieren wollte.

Heute in der nachsowjetischen Zeit mit dieser Serie von den Obdachlosen, das war ganz anders. Also ein Teil davon natürlich brauchten das Geld, sie haben auch ein bisschen um Geld gebettelt - und das hat man ihnen dann auch gezahlt. Aber andere waren einfach bereit, sich von sich aus zu zeigen, zu demonstrieren, wie sie leben. Sie haben gesagt, hier, zeig mal, wie unser Leben ist. Und die haben mich richtig aufgefordert, sie aufzunehmen.

Timm: Ich dachte, dass sie sich vermutlich doch erst mal erschrocken hätten: Da will mir jemand zugucken, da will mich jemand auf ein Foto bannen, mich in meinem Elend - dass man da auch erst mal eine Kluft überwinden muss.

Mikhailov: Solche Fälle habe ich kaum gehabt. Die Leute sind überrascht von ihrer Situation gewesen, sie haben nicht erwartet, dass sie so leben, wie sie das Leben eben erwischt hat, und ich habe sehr oft das Gefühl gehabt, dass sie selber ihre eigene Lage noch nicht verarbeitet hatten. Sie sind gebrochen, sie konnten sich gar nicht erklären, wie sie so weit gekommen sind, und sie waren auch sehr offen und bereit, ihre eigene Lage zeigen zu können, damit man eventuell noch Hilfe bekommt. Also viele haben sich erhofft, wenn man zeigt, wie sie leben, dann kommt ihnen auch Hilfe. Es sind Menschen gewesen, die völlig rechtlos draußen auf der Straße sind. Da sind irgendwelche Jugendliche vorbeigelaufen, haben sie einfach verprügelt, haben auf sie eingeschlagen. Sie haben überhaupt mit keiner Hilfe von irgendwo gerechnet, und ich war für sie jemand, an den sie sich eventuell, in Anführungszeichen, "wenden konnten".

Timm: Einige sehen mehr tot aus als lebendig, andere scheinen auch ihrer Situation trotzdem noch so was abzugewinnen wie Lebensfreude. Wie haben Sie diese Blicke eingefangen? Abgewartet, zugeschaut, lange Kontakt gesucht?

Mikhailov: Die sind außerhalb der Gesellschaft, keiner kümmert sich, und die Gesellschaft will sie gar nicht sehen. Und sobald jemand bereit ist, ein Auge für sie zu haben oder ein Interesse an ihnen zeigt, dann öffnen sie sich schon, dann sind sie bereit, einen auch ranzulassen an sich. Daher sind sie dann auch im Zuge des Gespräches, wenn man schon in ein Gespräch kam, nachdem sie sich geöffnet haben, haben sie völlig adäquat wie ganz normale Mitbürger reagiert. Man hat sich ganz normal mit ihnen unterhalten, weil sie sind dann für diese kurze Zeit aus ihrer völlig vergessenen und verdrängten Lage herausgekommen und haben sich dann auf einer Ebene mit mir gefühlt.

Timm: Boris Mikhailov, Sie sind von einigen auch sehr gescholten worden, denn Sie haben manchmal Obdachlose gebeten, sich für Ihre Bilder auszuziehen, und es hieß, das sei doch eine üble Inszenierung. Warum haben Sie das gemacht, warum war Ihnen das wichtig?

Mikhailov: Ich wollte diesen Menschen ganz nahe an die Haut ran rücken, an die Pelle rücken sozusagen, zu sehen, wie sehen sie körperlich aus, sind sie ganz ausgemergelt, sind sie ganz schwach oder nicht. Und schließlich wollte ich natürlich auf diese Weise zeigen, dass eigentlich das sind genau solche Menschen wie wir, dass die Kleidung, das Äußere, die äußere Schale eigentlich die Menschen macht und die Akzeptanz der Menschen macht, und innerlich beziehungsweise vom Körper her sind wir gleich.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", der Fotograf Boris Mikhailov ist unser Gast. Er ist einer der Berühmtesten seines Faches. Sie pendeln heute zwischen Berlin, wo Sie inzwischen leben, und der Ukraine. Wie ist das, wenn man zwischen diesen beiden Welten ständig pendelt?

Mikhailov: Über lange Zeit war es so, dass ich immer in mir innerlich verglichen habe. Wenn ich hier war und wenn ich dort war, habe ich immer verglichen die einzelnen Elemente der Wirklichkeit des Lebens. Inzwischen habe ich das Gefühl, dass sich die Sachen anpassen, also die Wirklichkeit passt sich in einem hohen Maße einander an. Aber ich muss sagen, wenn ich mich in Berlin aufhalte, fühle ich mich hier einfach überall gut, ich finde, dass in Berlin kann man sich überall wohlfühlen. Wenn ich in der Ukraine bin, muss ich gestehen, da gibt es schon Lokalitäten, da gibt es schon Orte, wo es mir einfach ungemütlich und unangenehm ist. Dort, wo es mir unangenehm und ungemütlich war, ist es natürlich als Fotograf, ist es natürlich viel interessanter. Da war es mir auch über lange Jahre so, dass ich dort mit größerer Spannung in solchen kritischen Umgebungen gearbeitet habe.

Timm: Ab heute ist in Berlin eine große Retrospektive mit Ihren Arbeiten zu sehen. Fühlen Sie sich eher als Künstler oder eher als Dokumentarist?

Mikhailov: Ich würde mich in die Mitte dieser beiden Bezeichnungen setzen, denn diese dokumentarischen Sujets, diese dokumentarischen Geschichten, die vor meinen Augen stehen, muss ich - und tue es auch, sie künstlerisch darzustellen.

Timm: Der Fotograf Boris Mikhailov. Übersetzt hat das Gespräch mit ihm Milen Radev. Die Berlinische Galerie zeigt von heute an eine große Retrospektive mit den Arbeiten von Boris Mikhailov, ein Gespräch mit dem Kurator hören Sie dazu nach 19 Uhr bei "Fazit am Abend", und nach 23 Uhr erfahren Sie dann in unserer Kultursendung "Fazit", wie die Ausstellung unserem Kritiker gefallen hat.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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