Der Fall Uli Hoeneß

Grenzen der Normierungsgewalt

Der ehemalige Präsident des Fußball-Bundesligisten FC Bayern München, Uli Hoeneß, lächelt am 16.10.2015 im Norden von München (Bayern) während der Grundsteinlegung für ein neues Sportzentrum mit Nachwuchsleistungszentrum.
Uli Hoeneß: Zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, aber schon nach 21 Monaten ein freier Mann © picture alliance/dpa/Andreas Gebert
Von Arno Orzessek · 24.01.2016
Peter Sloterdijk plädierte vor einiger Zeit für die Abschaffung von Steuern - vertrauend auf freiwillige Spenden der Wohlhabenden. Dieses Konzept könnte auch Uli Hoeneß nach seiner Haftentlassung zurück in die Riege angesehener Bürger befördern. Ob Foucault damit einverstanden gewesen wäre?
Vermutlich hat Uli Hoeneß zeitlebens zu viel Fußball im Kopf gehabt, um philosophische Aufsätze zu lesen...
Weshalb er womöglich nicht weiß, dass Peter Sloterdijk vor einiger Zeit für die Abschaffung von Steuern plädiert hat. Seine Idee: Wohlhabende folgen der "Ethik der Gabe" und finanzieren das Gemeinwesen mit freiwilligen Spenden.
Da Hoeneß auch eine spendable Seite besitzt, wäre er in einer Sloterdijkschen Spender-Republik also immer noch ein angesehener Bürger und nicht wegen Steuer-Hinterziehung zu mehrjähriger Haftstrafe verurteilt worden.
Die neueste Wendung ändert zwar nichts an der Verurteilung, mildert allerdings die Strafe: Hoeneß kommt vorzeitig frei.
Skandal! rufen viele. Dabei haben Haftstrafen in Deutschland ein klares Ziel: die Resozialisierung. Und obwohl sich Hoeneß in den Jahren der Zockerei als begnadeter Bluffer und Scheinheiliger entpuppt hat, bescheinigt ihm das Landgericht Augsburg eine gute Sozialprognose.
Foucault: Strafen zielen auf Herz und Verstand
Solche Prognosen scheinen im Sinne jener "Normierungsgewalt" getroffen zu werden, die laut Michel Foucault "zu einer der Hauptfunktionen unserer Gesellschaft" zählt.
Folgt man Foucault, zielen moderne, nicht mehr körperlich exekutierte Strafen "in der Tiefe auf das Herz, das Denken, den Willen, [und] die Anlagen" des Delinquenten...
Und als würde es an Foucault anschließen, legt das deutsche Strafgesetzbuch fest: Vor jeder Haftverkürzung steht die "Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit der verurteilten Person und ihrer Entwicklung während des Strafvollzugs".
Nun wird mancher bezweifeln, dass Hoeneß im Gefängnis tatsächlich die Heilkraft der Demut erfahren und die moralische Selbstherrlichkeit abgelegt hat.
Doch nicht umsonst werden Sozialprognosen auch Legalprognosen genannt. Sie beziehen sich nur auf die absehbare Fähigkeit, gesetzestreu zu leben – nicht auf charakterliche Eigenarten als solche.
Für Foucault dagegen waltet die Normierungsgewalt völlig unbeschränkt. Niemand kann sich entziehen, auch nicht außerhalb der Gefängnismauern. Denn dort bewegt er sich im "Kerkergewebe der Gesellschaft".
Die Totalität dieser Überwachung verdeutlicht Foucault an dem berühmten "Panopticon" des britischen Utilitaristen Jeremy Bentham. Darin ist jeder jederzeit vollständig der Kontrolle ausgesetzt, ohne selbst die Kontrolleure sehen zu können.
Allein, wie man – nicht nur – an Hoeneß' Vergehen erkennt, denkt sich Foucault die Überwachung gleichzeitig zu optimistisch und zu pessimistisch. De facto kann sie massenhafte Normen-Übertretungen nicht verhindern, zugleich fühlen sich viele gesetzestreue Bürger keineswegs in einen Foucaultschen Normen-Kerker eingesperrt.
Kurz: Die normierende Macht erweist sich weder im Gefängnis noch außerhalb als Allmacht; sie bleibt unterhalb der dämonischen Potenz, die Foucault ihr beimisst.
Funktionalität von Gesetzesbrüchen
Gelassener lässt sich der Fall Hoeneß mit Emil Durkheim betrachten. Für den französischen Soziologen sind Gesetzesbrüche Teil jeder Gesellschaft; sie sind sogar funktional...
Vorausgesetzt, sie stärken das kollektive Normenbewusstsein. Zu dieser Stärkung aber bedarf es der sichtbaren Bestrafung des Täters.
Seine Steuerschuld, inklusive happiger Verzugszinsen über 40 Millionen Euro, hat Hoeneß per Bank-Anweisung beglichen.
Doch so eine Überweisung bleibt unsichtbar. Im Sinne Durkheims war die Gefängnishaft für Hoeneß also nötig, um den Kontrast zwischen 'erlaubt' und 'unerlaubt' öffentlich zu erhellen.
Vielleicht haben die Richter bei der Haftverkürzung stillschweigend unterstellt, der Kommunikationszweck der Strafe sei erfüllt.
Ob oder so, Durkheim provoziert sogar mit der These: "Wie oft ist das Verbrechen wirklich bloß eine Antizipation der künftigen Moral."
Auf Hoeneß übertragen hieße das: Sein Steuervergehen wird eines Tages eventuell zur akzeptierten Norm.
Klingt irre? Nun, bei vielen US-amerikanischen Multimilliardären gehören systematische Steuervermeidung und gigantische Spenden eng zusammen.
Falls Hoeneß nun zwecks Rehabilitierung nach theoretischer Munition sucht, sollte er sich dem Steuer-Abschaffungs-Apologeten Sloterdijk anschließen.
Steuer-Hinterzieher zu Avantgardisten kommender Moral zu erheben: Wem gelänge das besser als zwei Glorreichen von solchem Format?
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