Der erste "Tristan"-Junkie

25.10.2012
1868 trafen sich der gefeierte Komponist Richard Wagner und dessen hingebungsvoller Jünger Friedrich Nietzsche in der Schweiz. Kerstin Decker fächert in ihrem Doppelporträt ein Pandämonium innerster Seelen- und Denkbewegungen auf.
Umstürzler waren sie beide, Raufbolde des Geistes gewissermaßen. Schließlich wollten sie nichts weniger als die Welt aus den Angeln heben. Richard Wagner die Welt der Musik, Friedrich Nietzsche die der Philosophie. Was sie verband: ein unbändiger Glaube an sich selbst und nur an sich selbst.

Als sie sich 1868 trafen, stand der Mittzwanziger und spätere Denker des "Menschlich-Allzumenschlichen" mit nichts als einem messerscharfen Verstand bewaffnet am Anfang seiner Karriere. Der gefeierte Komponist des ‚Tannhäuser’ und des "Tristan’ befand sich, 55-jährig weit jenseits der Lebensmitte, inmitten einer handfesten Krise. Von seinem glühendsten Gönner, dem bayerischen König Ludwig II., gezwungenermaßen kaltgestellt, zog er sich an der Seite Cosima von Bülows bei unsichersten Einkommensverhältnissen ins Schweizerische Tribschen zurück. Dort ging Nietzsche, inzwischen jüngster Altphilologieprofessor an der Baseler Universität, bald ein und aus, perfekt zwischen der Rolle eines Sohnes und der des intellektuellen Sparring-Partners wechselnd.

Wagner sah in dem ehrgeizigen Wissenschaftler einen Jünger, begabt genug, um seiner Kunst ein theoretisches Gerüst einzuziehen. Nietzsche, dem "ersten Tristan-Junkie", diente die Nähe zum Schöpfer des "zerreißendsten Akkords", der den Beginn der modernen Musik markiert, als Sprungbrett zu einer neuen Ästhetik. Formuliert hat er sie in der "Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik", deren Erkennungsmelodie aus Apollinisch-Dionysischem, aus Erhabenheit und Rausch nirgends je so geglückt sei wie im Musikdrama Wagners.

Die Freundschaft der Wahlverwandten dauerte zehn Jahre, vom Erscheinen der ersten Schriften Nietzsches bis zum Umzug Wagners nach Bayreuth. Nietzsche, der zunächst wie ein Propagandist der Festspiele um Mäzene geworben und geplant hatte, dort als "Parallelunternehmen des Geistes zur Kunst" eine Akademie zu gründen, floh schließlich vor dem Besuchertrubel, bei dem sich Kaiser und Könige die Klinke in die Hand gaben. Wagners Gedanken um Finanzierungslücken und die Zukunft eines Unternehmers – zu banal in den Augen des Erfinders des "Übermenschen". Mit der drohenden Kommerzialisierung der Kunst schien der Bruch unausweichlich.

Kerstin Decker, promovierte Philosophin und Reporterin des Tagesspiegel, die schon über Heine, Paula Modersohn-Becker und Lou Andreas-Salomé geschrieben hat, fächert in ihrem Doppelporträt einmal mehr ein Pandämonium innerster Seelen- und Denkbewegungen auf. In schnellem Wechsel nimmt sie die jeweilige Perspektive ihrer Protagonisten ein, streut dafür eine Vielzahl von Tagebucheintragungen und Briefen aus.

Spöttisch kommentiert sie deren durchaus pathologische Züge, wenn sie den Frauenverächter Nietzsche durchleuchtet oder den notorischen Schuldenmacher Wagner und sein Verhältnis zum Luxus ("das Mindeste, was ein Genie verlangen dürfe, bestehe darin, dass andere für die Spesen seines Aufenthalts auf Erden aufkommen.")

Gekonnt mischt sie einen Cocktail aus erzählerischen und analytischen Bestandteilen, springt von szenischen, mit Anekdoten angereicherten Darstellungen in gleichfalls gut lesbare Exegesen von Nietzsches Philosophie. Und sie weist überzeugend nach, wie deren Wandel nicht allein "Parsifal" geschuldet ist, nicht Wagners "Rückfall in die Religion", wie die Fachwelt behauptet, sondern im Kern aus einer Kränkung erwuchs. Nietzsche kam nie über den Vertrauensbruch hinweg, den der von ihm wie ein Gott verehrte "Schöpfer von Weltuntergangscouplets" beging, als er einen Arzt in die vermeintlichen sexuellen Probleme des Freundes einweihte.

Eine leichtfüßige, tragisch umflorte Einstimmung auf Richard Wagners 200. Geburtstag im Mai 2013.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Kerstin Decker: Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe
Propyläen Verlag, Berlin 2012
416 Seiten, 19,99 Euro
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