Der endlose Schwelbrand

Von Alexander Göbel · 10.04.2013
In Casamance im Senegal hatte vor 30 Jahren der Aufstand gegen die Regierung des Landes als Jugendbewegung begonnen. Seitdem führen militante Rebellen einen blutigen Guerillakrieg um die Unabhängigkeit der Region. Bis heute gibt es immer wieder Anschläge mit Toten und Verletzten – und das Problem ist noch immer ungelöst.
Jeden Morgen fährt Gabriel Tendeng mit dem Fahrrad auf sein Feld. Es liegt in Djibelor, einem kleinen Ort in der Nähe von Ziguinchor, dem Zentrum der Casamance.

Der alte Mann erntet Reis, und seine Frau hilft ihm dabei, so gut es geht. Die hektargroße Parzelle gehört ihnen nicht wirklich - in den 90er-Jahren kamen die beiden als Flüchtlinge nach Ziguinchor.

"Du musst ein kleines Stück Acker pachten - oder mit jemandem teilen: Anders geht es nicht. Meine Frau und ich müssen alles alleine machen - säen, pflegen ernten. Unseren Reis verbrauchen wir selbst - zum Verkaufen reicht das bisschen einfach nicht. Und wenn der Reis alle ist - dann müssen wir uns irgendwie durchschlagen. Die Familie anbetteln, oder sonst wen."

Früher war Gabriel einmal "Chef de Village" - ein angesehener Mann im Dorf Badem. Doch das ist lange her. Als Anfang der 80er-Jahre der Kampf der Rebellen begann, lag das Dorf auf einmal mitten in der Kampfzone.

"Seit 30 Jahren leben wir in einer Dauerkrise. Die Milizen haben hier bei uns gelebt, im Busch, rund um das Dorf. Und dann, eines Tages, am 5. März 1991, haben sie uns aufgefordert, das Dorf zu verlassen. Wir haben uns erst geweigert - aber dann kamen sie nachts und haben alles angesteckt und uns mit Gewehren bedroht. Seitdem leben wir in alle Winde verstreut."

Nach den Zahlen des Internationalen Roten Kreuzes sind im Laufe des bewaffneten Kampfes um die Casamance bis heute mehr als 5000 Menschen getötet worden, mehr als 100.000 mussten fliehen. 10.000 Vertriebene leben heute allein in Ziguinchor - in erbärmlichen Verhältnissen, an denen sich all die Jahre nichts geändert hat. Die meisten von ihnen sind Bauern, aber die wenigsten haben Arbeit. Umorientieren konnten sie sich nicht - die Wirtschaft in Ziguinchor liegt am Boden.

Wie Gabriel Tendeng kommt auch Bourama Toumboul Sané aus dem Dorf Badem. In Ziguinchor lebt er in einer Wellblechhütte: Drei Räume muss er mit 18 Mitgliedern seiner Familie teilen. Was damals noch als Provisorium gedacht war, ist zum Dauerzustand geworden.

Wenn es regnet, tropft es durchs Dach, es gibt keinen Strom, und auch nicht viel zu essen. Bourama ist Flüchtling im eigenen Land. Wenn er an Badem denkt, sein Heimatdorf, laufen ihm die Tränen über sein Gesicht.

"Das hier war mal das Paradies - ein kleines, idyllisches Bauerndorf. Hier gab es alles, was man sich vorstellen kann. Bananen, Mangos, Orangen, alles ! Es war sicher, man konnte auch nachts auf die Straße, alles gar kein Problem ! Und dann …

Ja, dann kamen nachts um zwei diese bewaffneten Männer. Sie haben alles geplündert und angezündet. Sie haben uns befohlen, das Dorf zu verlassen, es hieß: Rette sich wer kann! Ich bin nach Ziguinchor, meine Frau floh in eine andere Stadt, weit von hier, andere Dorfbewohner hat es bis nach Guinea-Bissau verschlagen ... es hat drei Monate gedauert, bis wir wussten, wo unsere Angehörigen waren!"

Wenn er das Leben als Vertriebener in Ziguinchor beschreibt, spricht Bourama von Zuständen wie im Mittelalter. Jede Nacht träumt er von seinem Dorf. Und davon, dass er eines Tages wieder dorthin zurück kann. Es wird noch lange ein Traum bleiben.

Denn die ganze Region ist vermint, vor allem die Grenzgebiete zu Gambia im Norden und Guinea-Bissau im Süden. Verlegt wurden die Minen vor allem von den Rebellen. Seit Mitte der 80er-Jahre sind in der Casamance mehr als 800 Menschen allein von Landminen getötet worden. Bislang sind nur eine Handvoll Dörfer "minenfrei". Und deshalb muss Bourama mit seiner Familie in Ziguinchor bleiben.

"Wenn wir essen, dann wissen wir schon vorher, dass wir nicht satt werden! Es gibt immer nur Reis, dazu den ganz billigen Fisch, für vielleicht 200 Franc, also 30 Cent. Wer kann sich denn hier schon Gemüse leisten oder auf den Markt gehen? Wie soll jemand Geld für Einkäufe ausgeben, wenn er keine Arbeit hat?

Ich sag’ Dir eins: So lange das Drama der vertriebenen Dorfbewohner nicht gelöst ist, wird es in der Casamance keinen Frieden geben. Und ohne Frieden gibt es keine Entwicklung! Man kann nicht von Fortschritt sprechen, vom Wandel, wenn die vertriebene Bevölkerung nicht zurückkehren kann."

Das Wort "Fortschritt" können viele in der Casamance nicht mehr hören: Der schwelende Dauerkonflikt zwischen der Armee und den Rebellen hat die Region zum Armenhaus des Senegal gemacht. Das Staatsunternehmen Sosechal zur Verarbeitung von Crevetten in Ziguinchor ging 2003 pleite - hunderte Arbeitsplätze gingen verloren.

Die Fischer der Gegend verkaufen ihren Fang heute in den Nachbarländern und bis nach Sierra Leone. Die örtliche Fabrik für die Herstellung von Erdnussöl wurde privatisiert und drastisch verkleinert, die Produktion von Reis ist in den letzten zwanzig Jahren von jährlich 150000 Tonnen auf die Hälfte zurückgegangen, dramatisch sind die Einbußen auch bei Erdnüssen.

Wegen der politisch-militärischen Krise leidet auch der Tourismus. Die Casamance ist ein Paradies, eine der schönsten Regionen Westafrikas - aber für viele Urlauber mittlerweile auch eine zu gefährliche No-Go-Area. Trotz der tiefgrünen Tropenwälder, der Mangrovensümpfe und Traumstrände ...

Zahl der Touristen geht zurück
Der letzte Rest der heilen Welt ist Cap Skirring, der bekannteste Badeort der Casamance, 70 Kilometer westlich von Ziguinchor. Hier wird der mörderische Konflikt da draußen ausgeblendet, soweit es geht. Zeitungen gibt es hier nicht, schlechte Nachrichten will niemand hören, dafür werden weiter Ausflüge in die Umgebung angepriesen.

Doch auch an Cap Skirring geht die Krise nicht vorbei - jedes Jahr kommen weniger Touristen. Und wenn sie kommen, dann sind es unerschrockene Fans, die der Casamance die Treue halten, darunter viele Rentner. Der Franzose Alain Lelay zum Beispiel: Er hat schon vor langer Zeit sein Herz an Cap Skirring verloren. Genauer gesagt: An die Urlaubssaison im französischen Club Méditerrannée. Mit dem Neun-Loch-Golfplatz, den Kokospalmen, dem endlosen weißen Strand.

"Ich war 1990 zum ersten Mal hier, und seit 1995 komme ich mindestens einmal pro Jahr. Alles hier finde ich faszinierend. Das Licht, die Landschaft der Strand, das Klima, alles ist einfach herrlich.

Nur einmal konnte ich nicht kommen, 1991/1992, da war es wirklich zu gefährlich wegen der doch schon dramatischen Spannungen in den Dörfern rund um den Club. Aber ich komme weiter hierher, Angst habe ich nicht, und ich mache auch kleine Touren in der Gegend, ich habe mich immer sicher gefühlt. Nur meine Familie sagt immer: Wie kannst Du nur da hinfahren - ich habe aber keine Angst, alles wunderbar."
Es sind Urlauber wie Alain Lelay, die die Wirtschaft in den Dörfern am Laufen halten. Seit zwölf Jahren arbeitet Jean-Marie Diatta in der Saison im Club Med, der vor ein paar Jahren schon mal zu Teilen abgebrannt ist. Jean-Marie arbeitet auf dem Golfplatz.

"Als Caddys helfen wir den Leuten, bessere Golfer zu werden - klar. Aber dahinter steckt viel mehr : Der Golfplatz ist unsere letzte Hoffnung hier haben viele von uns eine Arbeit gefunden, der Tourismus hier ist der einzige Sektor, der wenigstens für sechs Monate im Jahr funktioniert. Der Club Med beschäftigt gut die Hälfte des ganzen Dorfes. Wenn es in der Nebensaison keine Arbeit im Club gibt, kümmern wir uns um unsere Felder oder fischen.

Am Cap Skirring sind wir vom Tourismus abhängig. Sagt Alfred Ka, der traditionelle Ortsvorsteher von Cap Skirring. Das Dorf hier würde es ohne den Club Mediterranée nicht geben. Seit den letzten sechs Jahren steht es aber sehr schlecht, es kommen immer weniger Leute. Drei Hotels, das Savanna, das Socé Tour und das Royal Cap, haben schon schließen müssen. Es gibt einfach keine Arbeit mehr. Alle, die Arbeit suchen, stürzen sich jetzt auf den Club Med und das Paillotte - aber zwei Hotels reichen einfach nicht …"

Fehlende Investitionen
Durch die Krise seien langfristig wichtige Investitionen ausgeblieben, klagt Jeannot Diatta. Der Senegalese ist in Frankreich aufgewachsen, seit ein paar Jahren versucht er vergeblich, mit einem Restaurant und einer Bar in Cap Skirring Fuß zu fassen.

"Es ist ja nicht nur der Tourismus, der weiter entwickelt werden müsste, da sind noch ganz andere Sektoren. Dieses "Enclavement", dieses Abgeschnittensein, das ist unser großes Problem für den Ausbau der Infrastruktur. Ich habe die Casamance 1968 verlassen, damals gab es nur ein Schiff, das zwischen von der Casamance entlang der Küste nach Norden fuhr, nach Dakar… und bis heute gibt es nur eins!

Damals gab es nur eine Flugverbindung von Ziguinchor nach Dakar, bis heute ist das so! Eine Fluggesellschaft macht das alleine, sie hat das Monopol, die Flüge sind unglaublich teuer. Und auf dem Landweg muss man erst durch ein anderes Land durch - also Gambia - um nach Norden zu kommen, beziehungsweise zu uns in den Süden - das dauert mindestens 20 Stunden, und das geht so nicht! Damit kann man keine Touristen anlocken!"

Kein Krieg und erst recht kein Frieden: So steht es seit Jahrzehnten um die Casamance, diese Enklave zwischen Gambia und Guinea-Bissau. Auf Phasen intensiver Kämpfe folgen Monate relativer Ruhe.

Der Streit um die Casamance ist ein vergessener Konflikt, einer der längsten in Afrika. Die Kämpfe zwischen der senegalesischen Armee und den Rebellen der Unabhängigkeitsbewegung MFDC, des Mouvement des Forces Démocratiques de la Casamance - sie schaffen es nur selten in die Schlagzeilen.

Die Wurzeln der Krise reichen weit zurück in die Kolonialgeschichte. Die Diola, die Volksgruppe, die die Rebellen des MFDC vor allem unterstützt, waren schon immer freiheitsliebende Menschen. Sie hatten sich schon während der französischen Kolonialzeit Auseinandersetzungen mit der Zentralregierung in Dakar geliefert.
Diese separatistische Haltung in der Bevölkerung nahmen die Ideologen der MFDC später auf: Sie sahen die Casamance nie als Teil des Senegal – das war die Grundlage für den Freiheitskampf. Die Bewegung wurde immer radikaler, seit 1982 die senegalesische Armee einige Anführer festgenommen hatte. Dann kam der so genannte "rote Sonntag" - der 18. Dezember 1983: In Ziguinchor schlug die Armee friedliche Demonstrationen von Schülern brutal nieder – es gab fast 200 Tote. Der Historiker Nouha Cissé:

"Dieser Konflikt zieht sich schon so lange hin, weil so dermaßen viele Fehler gemacht wurden. Die ersten zehn Jahre, also seit Beginn der Krise 1982 bis 1992, ging es der senegalesischen Regierung um ‚Sicherheit‘ – das heißt, die Armee hat auf alles draufgeschlagen, was sich bewegt hat.

Damit hat man den Hass der Rebellen noch verstärkt. In die Enge getrieben, haben die Rebellen dann keinen anderen Ausweg gesehen, als eine Gegenoffensive zu starten, mit Atika, dem bewaffneten Arm der Bewegung."

"Atika", zu deutsch: "der Pfeil" - diese Guerilla-Truppe lieferte sich seitdem immer wieder Gefechte mit der Armee. Menschenrechtsorganisationen berichten von Gräueltaten auf beiden Seiten, von Folter, Entführungen, Hinrichtungen.

Bis heute kämpft auch Alphonse bei Atika mit. Zum Interview kommt er mit einer umgehängten Kalaschnikow. Sein flecktarnfarbenes Halstuch hat er tief ins Gesicht gezogen, er will nicht erkannt werden.

"Am 19. Juni 1991 bin ich zum Widerstandskämpfer geworden. Ich werde diesen Tag und diese Nacht nie vergessen. Die senegalesische Armee hat unser Dorf geplündert, unsere Ernten geraubt, unsere Häuser in Brand gesteckt.

Ich bin nur noch gerannt, und auf der Flucht habe ich es noch geschafft, zwei kleine Kinder zu retten. Noch im Kugelhagel habe ich mir damals geschworen, dass ich mich den Rebellen anschließen werde."

Der Hass sitzt tief. Immer wieder wurden Waffenstillstandsabkommen geschlossen, einen dauerhaften Frieden gab es bisher nicht. Das mag auch daran liegen, dass der Casamance-Konflikt nie ein rein senegalesisches Problem war.

Zu Gambia und dem von Militärputschen gebeutelten Guinea-Bissau gibt es nicht nur ethnische und historische Verbindungen - beide Nachbarstaaten sind auf verschiedenste Weise an der Krise beteiligt: auch durch politische Interessen und Waffenlieferungen. Friedensverhandlungen sind extrem komplex.

Hinzu kommt, dass der MFDC, die Bewegung für die Unabhängigkeit der Casamance, in sich gespalten ist: in viele zum Teil untereinander verfeindete bewaffnete Gruppen, eine zivile Bewegung und eine sehr aktive politische Diaspora - in Frankreich, in den USA, und auch in Deutschland.

Manche Beobachter sehen es als einen Hoffnungsschimmer, dass der MFDC nach vielen Monaten acht Kriegsgefangene der senegalesischen Armee freigelassen hat. Und: dass die Vermittler der katholischen Sant’Egidio-Missionare es geschafft haben, Salif Sadio zu Verhandlungen zu bewegen: ausgerechnet Salif Sadio, der Anführer der radikalsten Gruppe innerhalb des MFDC. Bei einer Pressekonferenz zum 30. Jahrestag der Casamance-Krise überrascht er die Journalisten: Statt seines Kampfanzugs trägt er zum Zeichen des Friedens einen blütenweißen Boubou. Was er sagt, klingt allerdings nicht nur friedlich, sondern auch kämpferisch wie immer.

"Ich sage es jedem, der mir zuhören will: In ihrem jahrhundertealten, erbitterten Kampf um nationale Unabhängigkeit ist die Casamance an einem Punkt angelangt, an dem es kein Zurück gibt. Das Recht der Casamance auf Unabhängigkeit ist wahrhaftig, absolut, unveräußerlich, unverjährbar - kurz: nicht verhandelbar!

Unabhängigkeit als Ziel
Die Bewegung der Demokratischen Kräfte der Casamance, hat sich 1982 erhoben - wir sind marschiert, und wir hatten gehofft, dass man uns zuhört. Leider war dem nicht so. Statt uns anzuhören, hat man lieber zu den Waffen gegriffen.

Und für uns war die einzig richtige Antwort, Krieg mit Krieg zu beantworten. Man hat uns diesen Krieg aufgezwungen - wir wollten ihn nie. Das Leben anderer Menschen auslöschen, das war und ist uns ein Tabu! Deshalb reichen wir der Regierung die Hand. Und deswegen wollen wir beweisen, dass die MFDC eine Bewegung ist, die diesen Konflikt niemals mit Gewalt lösen wollte."

Heute, 30 Jahre nach Beginn des Konflikts, sind viele Fragen unbeantwortet. Wie ernst meint es Senegals neuer Präsident Macky Sall mit seinem Versprechen, der Casamance einen Wirtschaftsaufschwung zu bescheren? Wer spricht auf Seiten des MFDC überhaupt im Namen der Bewegung?

Geht es überhaupt noch um Unabhängigkeit als reales Ziel, oder längst um strategische Deals? Auf den politischen Willen aller komme es jetzt an, so Pater Angelo Romano von der Gemeindeorganisation Sant’Egidio. Er ist einer der Vermittler zwischen den Rebellen und der Regierung.

"Sicher - es sind immer noch Konfliktparteien, die sich feindlich gegenüberstehen. Aber es bewegt sich was - wir sind dabei, eine Art Fahrplan zu entwickeln, damit weiter verhandelt werden kann, und zwar konstruktiv. Schritt für Schritt kommen wir dann vielleicht unserem Ziel näher."

Dieses Ziel, so der Vermittler, müsse erst einmal schlicht und einfach "Frieden" heißen. Aber das sei in der Casamance doch schon eine ganze Menge.
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