Der Dichter der Winterreise

05.11.2007
"Das Wandern ist des Müllers Lust", "Am Brunnen vor dem Tore ..." – das kennt jeder. Aber von wem stammt es? "Fremd bin ich eingezogen, fremd zog ich wieder aus ..." - das ist der ebenfalls sehr bekannte Anfang der "Winterreise" von Franz Schubert. Aber wer schrieb den Text?
Die "Winterreise" von Franz Schubert: das sagt sich so, dabei ist es eigentlich die "Winterreise" des Wilhelm Müller, aber der ist einer der großen Unbekannten der deutschen Literaturgeschichte; noch über seine Herkunft rankt sich bis heute das Gerücht, er könnte vielleicht auch ein Sohn des "Vater Franz" gewesen sein, des Herzogs von Anhalt-Dessau.

Nach offizieller Lesart wurde er 1794 als Sohn eines Dessauer Schneiders geboren, er studiert klassische Philologie, Germanistik und Englisch in Berlin; während des Studiums nimmt er als freiwilliger Gardejäger an den Befreiungskriegen gegen Napoleon teil, wird zum Leutnant ernannt. Schon der 22-Jährige veröffentlicht Gedichte, der 23-Jährige bereist Italien.

Wilhelm Müller wird Lehrer für Latein und Griechisch an der Herzoglichen Gelehrtenschule in Dessau; er wird herzoglicher Bibliothekar, er wird Mitarbeiter des Verlegers Friedrich Arnold Brockhaus. Für dessen Enzyklopädie schreibt er hunderte von Artikeln, er schreibt ein Reisebuch "Rom, Römer, Römerinnen", er schreibt eine Byron-Biographie, er übersetzt Christopher Marlowes Tragödie "Doktor Faustus" aus dem Englischen, und er schreibt – sein Leben lang – Gedichte. Für die vielen "Lieder der Griechen", mit denen er den Freiheitskampf der Griechen gegen die Türken unterstützen will: dafür wird er berühmt, für sie erhält er den Beinamen "Griechen-Müller"; die "Winterreise" und "Die schöne Müllerin" werden erst die Nachwelt wirklich kennenlernen: durch die Vertonungen Franz Schuberts. Verheiratet, Vater zweier Kinder, zum Hofrat ernannt: stirbt Wilhelm Müller 1827, vermutlich infolge eines Herzinfarkts.

Die Journalistin und Schriftstellerin Erika von Borries hat (gemeinsam mit ihrem Mann Ernst von Borries) für den Deutschen Taschenbuch-Verlag schon eine fünfbändige Deutsche Literaturgeschichte geschrieben. Sie kennt sich aus, und folgt den Stationen des Lebens von Wilhelm Müller in elegantem Erzählton mit großer Akribie, findet Belege noch für die entlegensten Lebensspuren und das, obwohl die Quellenlage zu Leben und Werk Wilhelm Müllers ausgesprochen schlecht ist. Dass sie sich beim Werk Müllers auf die Gedichtzyklen "Winterreise" und "Schöne Müllerin" konzentriert, ist verständlich, sind es doch die populärsten Texte Müllers. Gleichzeitig ist es ein wenig schade, denn Müller war eben nicht nur, wie der Untertitel des Buches es nahelegt, der Dichter der "Winterreise". Über die vielen publizistischen und lexikographischen Arbeiten Müllers, auch über seine Novellen hätte man gerne mehr erfahren.

Dennoch ist das Buch verdienstvoll, schon allein deshalb, weil in Deutschland seit 1908 (!) keine einzige Müller-Biographie mehr geschrieben wurde. Und die Beschäftigung mit seinem Leben und seinem Schreiben lohnt. Es war das Leben eines Mannes zwischen den Zeiten: selber hin- und hergerissen zwischen Dichtung und Gelehrtentum, gab er sich mit Verve der Euphorie der Befreiungskriege hin, um dann der nachfolgenden Restauration enttäuscht und ratlos gegenüberzustehen. In seinem Schreiben folgt Müller den Gedanken zeitgenössischer Romantiker wie Brentano, Tieck, Eichendorff - und mag er auch deren gedankliche Höhe nicht gleichermaßen erreicht haben: so fand er doch für seine Lyrik einen ganz eigenen Ton. Einen ebenso heiteren wie düsteren Volksliedton, melancholisch und musikalisch: Schubert wusste genau, was er an diesen Gedichten hatte; Heinrich Heine erkannte ihn als seinen Lehrmeister an: "Ich bin eitel genug, zu glauben, dass mein Name einst, wenn wir beide nicht mehr sind, mit dem Ihrigen zusammen genannt wird."

Rezensiert von Jürgen König

Erika von Borris: Wilhelm Müller. Der Dichter der Winterreise. Eine Biografie
Mit 2 CDs
C.H. Beck/München 2007
320 Seiten, 26.90 Euro