Der Collagenkünstler Carsten Schneider

Das Weltgeschehen zerschneiden, um Schönheit zu bauen

Zeitungsausschnitte
Grünling auf E-Gitarre © Copyright Carsten Schneider
Von Tobias Wenzel · 16.07.2017
Zeitungscollagen und Radioausschnitte sind die Grundlage des kuriosen Kunst des Carsten Schneider. Vor wenigen Wochen hatte er seine erste Ausstellung in Berlin - und der Betrachter merkte hier bei einem Besuch sehr schnell, wie genau Schneider zuhört und hinsieht.
"Und nun die Aussichten grau und nass."
"Morgengrauen."
"Graue Suppe."
"Grauzone."
"Grau ist alle Energie."
Carsten Schneider hat in seiner Berliner Altbauwohnung in hundert Schachteln mit Pappe verstärkte Ausschnitte aus den Überschriften von Tageszeitungen gesammelt: Wörter wie "grau", "Mensch" und "Ende". Diese entrückt der Collagenkünstler aus ihrem Kontext und klebt sie zu berührenden Bildern zusammen, in denen nur noch ein Wort regiert, besonders gerne: der bestimmte Artikel "die", den er aber als englisches "die" versteht, also ‚sterben‘. Dem Tod und dem Kreuz, als Wort und Motiv, begegnet man oft in Carsten Schneiders Werken. In einem Zimmer steht ein großes Klebebild auf einer Staffelei. Zu sehen ist ein Kreuz, gestaltet mit dreieckigen rötlichen Bildausschnitten aus Fleischwarenanzeigen der Zeitungen.
"Es gab hier ein interessantes Fleischstück. Ich glaube, das war solches hier. Das war einmal angepriesen als vom Hühnchen oder so. Und dann war es aber unter einem ganz anderen Tiernamen angeboten ein paar Tage später. Da war ich schon erstaunt. Das wollte ich unbedingt drin haben."

150 Kreuzbilder aus zerschnittenen Zeitungsfotos

Rund 150 Kreuzbilder aus zerschnittenen Zeitungsfotos hat Carsten Schneider schon geschaffen, teilweise in Triptychonform. Auf den ersten Blick glaubt man, alte Sakralkunst zu betrachten, aber dann entdeckt man einen anachronistischen Hubschrauber oder man ist sich nicht mehr sicher, ob der vermeintliche Heiligenschein nicht doch eher eine Explosion ist.
Schneider wuchs in Schleswig-Holstein völlig weltlich auf. Der wichtigste Glaubenssatz seiner Eltern: "Ordnung ist das halbe Leben." Ohne extreme Ordentlichkeit in der Vorarbeit wäre auch seine Collagenkunst undenkbar. Einmal hat Schneider allerdings Chaos und Dreck, genauer: Vogelkot, akzeptiert - seiner Kunst zuliebe. Drei Jahre lang hat er ein Zimmer seiner bescheiden eingerichteten Wohnung den Wildvögeln geöffnet, Gitarren und Trommeln ausgelegt, mit Mikrofonen die Klänge aufgenommen und mit einer Digitalkamera die Vögel fotografiert.
"Dieser Eltern-Grünling schnäbelt das Kind und sitzt dabei auf den Gitarrenseiten. Vielleicht halten die sich sogar gerne dran fest. Und der Kleine ist ja auch mit seiner Pfote an der kleinen E-Seite dran. Und der Große ist auf der großen E-Seite. Und irgendeinen Akkord werden sie schon machen dann. Ach ja, es kamen natürlich auch Meisen dazu. Das sind auch meine liebsten Freunde geworden in der Zeit so."
Kurz nach seinem Projekt starben aufgrund einer Krankheit in Berlin alle Grünlinge. Tieftraurig hat das Carsten Schneider gemacht. Seine Collagenkunst kann man auch als Versuch interpretieren, dem Tod etwas entgegenzusetzen, die überfrachtete, oft hässliche Welt auseinanderzuschneiden, um dann beim Collagieren eine verloren geglaubte Schönheit wieder auferstehen zu lassen.
Dafür macht dieser radikale, kompromisslose Künstler täglich 10.000 Schnitte mit diversen Scheren. Hinzu kommen die digitalen Schnitte für seine Audioprojekte. 2010 zeichnete er den gesamten Deutschlandfunk des Jahres auf und extrahierte die Warnmeldungen der Verkehrsnachrichten. Sieben Jahre lang arbeitete er an seiner Hörspielcollage "Die Gefahren eines Jahres im Deutschlandfunk."

Für diese Kunst - ganz eigene Gesetze

Für eine andere Arbeit schnitt er alle S-Laute eines Sendetags heraus und litt darunter:
"Also das Gehirn ist extrem strapaziert von diesen Sachen, teilweise. Und das ganze Wesen. Und ich bin der Einzige, der hier die Gesetze macht. Um da ein Gleichgewicht oder Gegengewicht zu finden vom Hirn, habe ich mir Ehrenämter gesucht, wo ich 'mal echt nur mache, was andere Leute wollen, wo ich nur für andere da bin, wo ich kein Gesetz selber mache. Also da mache ich seit vielen Jahren verschiedene Arten von Sterbebegleitung und so weiter. Das ist auf eine Art ähnlich extrem wie diese Kunst. Ist also super zum Entspannen. Ist mein Ausgleichssport irgendwo."
Mit dem Rauchen musste Schneider aufhören, weil er pro Tag für seine Papiercollagen zwei große Klebestifte verbraucht und so das Geld für Zigaretten fehlt. Seine Kunst hat immer Vorrang. Kinder könne er nicht großziehen, erzählt er. Die Collagen seien seine Kinder. Noch gut erinnert sich Carsten Schneider daran, wie er seine erste Collagenstunde in der Schule verpasste:

"Ich habe mich gefreut wie ein kleiner Hund und bin also so fröhlich mit meiner Schneidemappe losgelaufen zur Schule und habe die Tüte richtig rumgeschleudert, um mich rum, bis ich irgendetwas merkte. Irgendetwas stimmte nicht: Ins Krankenhaus musste ich, denn beim Schleudern mit der Tüte habe ich die Schere, die in der Tüte drin lag, in mein Bein gerammt. Die steckte also hier oben im Schenkel. Das war meine erste Collage sozusagen, wo ich mich selbst collagierte. Ja, und vielleicht, weil ich sozusagen nicht an den Collage-Arbeiten der anderen konnte, vielleicht hole ich das bis heute noch nach."
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