Der Blick aufs Ganze

18.11.2007
Der Physik-Nobelpreisträger Robert B. Laughlin kritisiert den Reduktionismus seiner Kollegen. Anstatt auf immer kleinere Einheiten zu blicken, plädiert Laughlin in seinem Buch "Abschied von der Weltformel" dafür, der Selbstorganisation der Natur nachzuspüren.
Im menschlichen Geist gibt es zwei einander widersprechende Urimpulse: Der eine will etwas auf die wesentlichen Grundlagen reduzieren, der andere will durch die wesentlichen Grundlagen hindurch auf die umfassenderen Zusammenhänge blicken.

Laughlin lehnt den Reduktionismus der meisten seiner Physiker-Kollegen ab. Für ihn ist es ein Holzweg, physikalische Phänomene in immer kleinere Einheiten zu zerlegen, um diese dann zu verstehen und damit wie mit kleinen Bausteinen den gesamten Kosmos zu beschreiben. Auch die Stringtheorie, die auf aberwitzig kleinen Dimensionen zur Anwendung kommt und irgendwann einmal Quantenmechanik und Relativitätstheorie vereinigen soll, werde nicht zu einer "Theorie von allem" führen.

Stattdessen ruft Laughlin das Zeitalter der Emergenz aus: Die Natur könne man nur verstehen, wenn man sie als Ganzes sieht. Die Selbstorganisation der Natur zu erfassen, sei die heutige Herausforderung. Für Laughlin bedarf die physikalische Forschung eines radikalen Neuanfangs. Er plädiert für ein "anderes Universum", so der Originaltitel, aus dem der Piper-Verlag etwas reißerisch "Abschied von der Weltformel" gemacht hat. Die Grenzen unseres Wissens sind nicht Milliarden Lichtjahre entfernt und sie stecken auch nicht in komplizierten Theorien. Die Rätsel der Natur fangen direkt in unserem Alltag an: Wie organisiert sich die Materie in einem Salzkorn? Wie kommt es, dass Wasser plötzlich gefriert? Was steuert das Verhalten elektronischer Bauteile?

Diesen Frontalangriff auf die herrschende Physik führt einer ihrer prominentesten Vertreter aus: Robert Laughlin, Jahrgang 1950, ist Professor an der renommierten Stanford University und Nobelpreisträger. Doch so berechtigt seine Kritik am häufig sicher etwas einfallslosen Treiben der Physiker-Kollegen auch sein mag. Im "Abschied von der Weltformel" vermag seine Alternative nicht zu überzeugen. Die im Untertitel versprochene Neuerfindung der Physik vermittelt sich dem Leser nicht. In den 16 Kapiteln zeigt der Autor etliche Beispiele, wo seines Erachtens die Selbstorganisation der Natur Schlüssel zum Verständnis ist und eben nicht die Reduktion auf vermeintlich elementare Gesetze. So müsse man das Vakuum der Raumzeit als eine Art Materie auffassen, die Einsteinsche Relativität sei keineswegs so grundlegend wie viele immer glauben und die Supraleitung von Metallen sei Folge erstaunlicher Ordnungsphänomene der Materie.

Doch Laughlins Buch ist reichlich verworren geschrieben. Viele Anekdoten sollen es auflockern, verschütten aber eher die Gedanken des Autors. Langatmige und oft ziemlich selbstverliebte Schilderungen von Bootsfahrten oder Wanderungen bringen die Argumentation keineswegs voran, sondern blähen das Buch nur unnötig auf. Es wimmelt von langen Sätzen voller Fachbegriffe. Wem Worte wie Quanten-Indeterminismus, hexatische Phase oder Wärmekapazität nicht geläufig sind, für den werden diese 336 Seiten sicher häufig zur Qual. Im englischen Original, das bereits vor zwei Jahren erschienen ist, hat der Autor seine Ideen mit etlichen selbstgezeichneten Cartoons angereichert, die allerdings höchstens dekorativen Charakter haben und nicht wirklich zur Erklärung beitragen. In der deutschen Ausgabe hat der Verlag darauf wohlweislich verzichtet.

Den Physikern klarzumachen, die Natur mehr zu beobachten als zu berechnen, ist sicher gut begründet. Dass sich die Forschung heute einer Mode folgend oft völlig im Mathematischen verrennt und Theorien hervorbringt, die sich nicht ansatzweise experimentell überprüfen lassen, ist eine lange überfällige Kritik. Natürlich ist es absurd, wenn manche Physiker schon vom Ende der Wissenschaft schwadronieren, weil mittlerweile alles Grundlegende entdeckt sei. Doch diese Ideen ließen sich viel kürzer und prägnanter ausführen als in diesem dicken Buch. Zum Teil hat man den Eindruck, Robert Laughlin habe mit einigen Kollegen eine Rechnung offnen, wenn er über deren ideologische Blindheit herzieht.

Dass der Verlag Laughlins Buch in eine Reihe mit den Werken des Nobelpreisträgers Richard Feynman stellt, ist geradezu lächerlich. Denn Laughlins sperriges Textmonstrum hat nichts von der eleganten Leichtigkeit der Bücher eines Richard Feynman. Beide mögen brillante Physiker sein - aber anders als Feynman ist Laughlin eben kein exzellenter Kommunikator. Der "Abschied von der Weltformel" ist ein Buch wirklich nur für ganz hartgesottene Physik-Fans.

Rezensiert von Dirk Lorenzen

Robert B. Laughlin: Abschied von der Weltformel: Die Neuerfindung der Physik
Übersetzt von Helmut Reuter
Piper-Verlag 2007
336 Seiten, 19,90 Euro