Der Bahnhof als Zentrum der Welt

Von Ulrike Gondorf · 19.03.2006
1965 vollendete Salvador Dalí das monumentale Gemälde "La Gare de Perpignan". Dieses kommt einer gemalten Autobiografie des Künstlers gleich. Verschiedene Aspekte seines Lebens und phantastische Bildwelten erscheinen als retrospektive Traumvision. Dali entdeckte 1963 in einer halluzinatorischen Vision in dem Bahnhof von Perpignan "das Zentrum der Welt". Das Bild ist zentrales Motiv und Titel einer großen Dali-Retrospektive im Kölner Museum Ludwig.
Am Bahnhof fängt es an, und erst einmal versperrt er den Blick auf den Ort, an dem man angekommen ist: Salvador Dalis Monumentalgemälde "Der Bahnhof von Perpignan" steht ganz allein vor dem Betrachter und will erst einmal studiert sein: Diagonale Strahlenbündel aus gleißendem Licht beherrschen die Komposition, aus dem gelblich grünen Nebel des Hintergrundes tauchen Figuren und Gegenstände wie geisterhafte Schemen auf, ein Eisenbahnwaggon schwebt in den Lüften und zweimal ist die Silhouette des Künstlers zu erkenne, die aus dem Nichts in den Bildraum hineinzustürzen scheint.

Dieses Werk gibt der Kölner Dali-Ausstellung nicht nur den Titel, sondern auch den Inhalt: Alles, was den Besucher auf dem anschließenden Rundgang erwartet, hat Bezugspunkte zu diesem Bild aus dem Jahr 1963. Kurator Dr. Gerhard Kolberg.

"Er hält in diesem Bild auch eine Retrospektive, nämlich die über sein Leben, alle wichtigen Gestalten und Figuren, Themen, die ihn in den 30, 40 Jahren zuvor bewegten, sind in diesem Bilde angedeutet oder dargestellt."

Wie eine Summe seines Lebenswerks betrachtete auch Dali selbst das Bild "la Gare de Perpignan". In der Ausstellung ist ein Filmdokument zu sehen, in dem er das Gemälde der Öffentlichkeit präsentiert.

Als einen ganz gewöhnlichen Sterblichen will der Meister, der sich als visionären Künstler sah und sein Image zwischen Genie und Wahnsinn ja auch immer medienwirksam zu vermarkten verstand, sich nach der Fertigstellung des Bildes wieder begreifen; befreit von der Last der Verantwortung, die Idee auf die Leinwand zu bannen, die sich ihm 1963 im Bahnhof von Perpignan aufdrängte. In "paranoisch-kritischer Methode" - wie Dali selbst seine Arbeitsweise nannte - musste er sie bewältigen.

Kolberg: "Seine Paranoia, seine Ängste, Sorgen, Phantasien, auch seine perversesten Phantasien lebt er aus und stellt sie dar, er krempelt sich sozusagen von innen nach außen und er hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er einige Dinge zu bewältigen hat, die andere Leute verbergen. Insofern find ich das immer noch modern."

Der Bahnhof von Perpignan an der Grenze zwischen Spanien und Frankreich erschien dem Maler als Zentrum der Welt - seiner Welt, heißt das wohl bei Dali. Ihn hatte er als junger Mann immer passiert, wenn er nach Paris reiste, wo er Ende der Zwanziger Jahre eine schillernde Erscheinung im Kreis der Surrealisten geworden war. Über Perpignan kamen seine Pariser Künstlerfreunde, um ihn in Nordspanien zu besuchen und Projekte zu schmieden; auch Gala, seine Frau, Muse und Managerin, machte hier Station, bevor sie 1929 - noch mit einem andern Mann verheiratet - Dali zum ersten Mal begegnete.

Kolberg: "Gala ist in unserer Ausstellung auch Gegenstand, weil sie in unserem Bilde auf einem Kartoffelacker über einem Schubkarren schwebt und auf die Vision schaut, wo Dali in zweifacher Gestalt vor dem seine arme ausbreitenden Christus förmlich in ihren Schoß zu fallen scheint."

Auf Galas Spuren, die sich fast in jedem Bild finden, kann man Dalis Lebensthemen in vielen Variationen studieren, die sich im Perpignan-Bild dann noch einmal bündeln. "Eros und Thanatos", "Die Landschaft der Erinnerung" und "Religion und Mystik" sind sie in der Ausstellung überschrieben. Das ist ein klares Konzept, das mit Fotos, Briefen, Texten Filmausschnitten, in denen das ganze Panorama der Zeit lebendig wird, zusätzlichen Reiz gewinnt.

Ein künstlerisches Ereignis wird die Dali-Ausstellung trotzdem nur momentweise - in den starken, wilden, surrealistischen Visionen des jungen Dali; am beklemmendsten sicher in dem berühmten Bild des sich selbst zerfleischenden Molochs mit dem Untertitel "Vorahnung des spanischen Bürgerkriegs". Kurator Gerhard Kolberg beschreibt den Bruch in Dalis künstlerischer Biographie.

"Es ist nach 1948 in seiner Kunst eine Wandlung zu beobachten, er ist nicht mehr der provokante Surrealist, der deformiert, der phantastische Gestalten erfindet, sondern alles ist hyperrealistisch erfasst, sehr exakt komponiert, nach dem Vorbild der Harmonielehren der Renaissance, nach Naturgesetzen, er hat sich auch stark mit Naturforschung beschäftigt."

1948 kehren Dali und Gala nach einigen Jahren des Exils aus den USA nach Spanien zurück. Dali arrangiert sich mit der faschistischen Diktatur Francos. Die Bilder werden starr, unnahbar, sie sind in unübertrefflicher altmeisterlicher Perfektion gemalt, aber es stellt sich leise Langeweile ein, wenn man sie in dichter Folge betrachtet. Die Wände der Kölner Ausstellung glühen in tiefem Rot oder sattem Gelb - die Kunst ist eiskalt.

Und ein leichtes Unbehagen beschleicht einen angesichts der Stilisierungen, in denen Dali sich zu Christus und Gala zur Madonna hinaufzudestillieren sucht. Im Vergleich mit Max Beckmann etwa, der erst kürzlich im Museum Ludwig zu sehen war, scheint hier eine Umkehrung stattzufinden: Nicht das Persönliche wächst in eine mythische Dimension, sondern der Mythos schrumpft ins Private. Reagierte Dali, vermeintlich in einer hermetischen Kunst- und Erlebniswelt verschlossen, auf politische Verhältnisse, auf den wachsenden Druck, den Galas kommerziell höchst erfolgreiche Vermarktungstrategien erzeugten?

Vielleicht gehen von der Kölner Ausstellung neue Impulse zur Forschung aus. Kurator Gerhard Kolberg hofft,

"Dass sich eine Auseinandersetzung mit Dali einstellt, auch eine kritische, auch unter dem Aspekt seiner Rückkehr 1948 in das Spanien, das von Franco beherrscht wurde."

Service:
Die Ausstellung "Salvador Dali - La Gare de Perpignan" ist bis zum 25.6.2006 im Museum Ludwig in Köln zu sehen.