Der Autor als alte Dame

Rezensiert von Gabriele von Arnim · 21.07.2006
Mit "Josefine und ich" meldet sich Hans Magnus Enzensberger nach langer Zeit angeblich als Erzähler zurück. Allerdings hat man beim Lesen den Eindruck, dass sich der Autor als Josefine - die alte Dame ist die Hauptfigur des Büchleins - verkleidet, um endlich einmal ohne intellektuelle Anstrengung kulturkritisch palavern und provozieren zu können. Das Palaver gelingt. Die Provokation weniger.
Angekündigt als Ereignis: Ein kleines Büchlein des Hans Magnus Enzensberger, der sich nach mehr als 30 Jahren angeblich als Erzähler zurückmeldet. "Josefine und ich" heißt der Band im schwarzen, samtenen Einband.

Jeden Dienstag punkt fünf Uhr besucht ein junger Wissenschaftler eine alte Dame in ihrer verkommenen Villa zu einer Tasse Tee und zu flotten Tiraden. Josefine K., einst Sängerin, liebt es, sich zu ereifern, zu streiten. Der junge Mann ist entzückt. So eine Frau hat er noch nie erlebt, die sich um Kopf und Kragen reden würde, wenn sie denn irgendwo Kopf und Kragen zu verlieren hätte.

Josefine verteidigt Opportunismus, verachtet die Demokratie, die zeitgenössische Kunst, den Islamismus, die Gerechtigkeitssuche, macht sich lustig über Therapeuten, Politiker, Mathematiker und über die Moderne. Kein Telefon, kein Fernseher, keine Tageszeitung kommen ihr ins Haus. Aber sie hat Bücher, sie liest und zitiert gern. Vor allem ist sie meinungsstark und rücksichtslos, politisch inkorrekt, manchmal lebensklug und häufig widersprüchlich. Nach dem Motto: Was schert mich mein Geschwätz von gestern, singt sie das Lob der Vergesslichkeit und legt zu jedem Thema je nach Laune los. Der junge Mann - eingebunden in Institutspolitik und strebsam beschäftigt mit Fragen der Makroökonomie - beneidet sie um ihre Dreistigkeit.

Immer wieder hat man beim Lesen den Eindruck, dass hier der Autor- Altmeister des scharfsinnigen Essays - sich als alte Dame verkleidete, um endlich einmal ohne intellektuelle Anstrengung kulturkritisch palavern und provozieren zu können. Das Palaver gelingt. Die Provokation weniger. Man hat das alles schon zu oft gehört, um noch aufgestört oder auch nur überrascht zu werden. Es ist doch längst Usus, mit großer Gebärde auch politisch inkorrekte Gesänge anzustimmen.

Oder wollte Enzensberger lustvoll und listig seitenweise triviale Sprechblasen pusten, um uns den Niedergang der Kunst und der Gesellschaft aufzuzeigen? Ist Josefine die Närrin, die die Wahrheit spricht? Ist hinter dem Geschwafel auch ein kalter Nebel der Ratlosigkeit spürbar, der Resignation womöglich?

Der Titel deutet hin auf eine absichtsvolle Verwandtschaft zu Kafkas letzter Erzählung: "Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse." Eine kleine, eindringliche Parabel, in der die Maus Josefine vom Mäusevolk als Sängerin verehrt wird, obwohl sie nicht einmal besser pfeifen kann als alle anderen. Aber sie kennt die Posen einer Diva, weiß um die Aura einer Bühne, kann verzaubern. Und das Mausevolk möchte verzaubert werden.

Heute, so scheint Enzensberger sagen zu wollen, ist die Welt zu banal für die Kunst. Man kann alles sagen – und alles bleibt wirkungslos. Als sei auch ihm die Kunst des Singens vergangen oder ihre Vergeblichkeit klar geworden. Die Zukunft liegt eben bei den Ökonomen der Globalisierung, bei dem jungen engköpfigen Währungs-Wissenschaftler und seinesgleichen.

Eine Erzählung ist das Büchlein nicht. Josefine bleibt eher Thesenpuppe und Zitatenautomat als lebendiges Wesen. Die Draperien, mit denen der Autor das Dasein des Wissenschaftlers zu schmücken sucht, bleiben so fahl wie der junge Mann selbst.

Wenn einer Mensch ist in dem Buch, dann Josefines alte Bedienstete Fryda - seit über einem halben Jahrhundert Garderobiere, Vertraute, Haushälterin. Eine polnische Jüdin, die den Massenmord überlebte - mit einem falschen Pass, den Josefine ihr verschaffte. Die nämlich hatte beste Beziehungen. Erreichte ihre Karriere doch in der Zeit des Nationalsozialismus ihren Zenit. "Sogar der Goebbels hat mich mehr als einmal zum Abendessen eingeladen." Klaus Manns Mephisto lässt grüssen.

Das alles wird eher beiläufig erzählt. Man darf es ja nicht auslassen, das dunkle Kapitel der deutschen Geschichte, möchte sich aber auch nicht wirklich auseinandersetzen damit. "Ich bin genau wie die anderen", sagt Josefine. Und der junge Mann wundert sich: "Josefine, die Sängerin, eine mausgraue Allerweltsfigur?"

Mitläufer als graue Mäuse? Ist das Zynismus oder blanke Resignation? Und was hat Kafkas Josefine mit dieser Drehung zu tun? Auch wenn man sich als Erzähler versucht, sollte man scharfsinnig bleiben und präzise.


Hans Magnus Enzensberger: Josefine und ich
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 148 Seiten