Der amerikanische Komponist und Pianist Frederic Rzewski (1938 - 2021)

Dinge ungewohnt sehen

56:47 Minuten
Der amerikanische Komponist und Pianist Frederic Rzewski bei einem Konzert.
Frederic Rzewski am Klavier © imago / Hartenfelser
Von Carolin Naujocks · 01.07.2021
Virtuos und unbeirrt kannte man Frederic Rzewski als Pianist und Komponist. In den 70er Jahren versuchte er das bürgerliche Konzertpublikum mit einem Variationenzyklus über ein chilenisches Protestlied zu politisieren.
Frederic Rzewski hatte in Harvard und Princeton bei den amerikanischen Altmeistern Randall Thompson, Roger Sessions, Walter Piston und Milton Babbitt studiert, bevor er 1960 nach Italien ging. Dort eröffnete sich ihm einen anderer Horizont, dessen Offenheit er zeitlebens verfolgte.
Eigentlich war es eine Rebellion gegen die eigene Herkunft: Mitte der 60er Jahre gründeten die Amerikaner Frederic Rzewski, Alvin Curran und Richard Teitelbaum u.a. in Rom die Gruppe Musica Elettronica Viva. Im fruchtbaren Niemandsland zwischen zeitgenössischer komponierter und improvisierter Musik versuchten sie eine neue musikalische Grundlegung jenseits von Notation und akademischen Institutionen und andere als die traditionell hierarchisch gegliederten Musizierformen auszuprobieren. Revolutionär an diesen Experimenten war gar nicht so sehr, was dabei herauskam, als vielmehr der Prozess als solcher.

Agitationsstück oder Revolutionskitsch?

Einen politischen Impuls anderer Art verfolgte Rzewski mit seinem 1975 entstandenen "The People United Will Never Be Defeated!", ein Zyklus von 36 fulminanten Klaviervariationen über das chilenische Kampflied "El pueblo unido, jamás será vencido", bei dem Beethovens "Diabelli-Variationen" Pate gestanden haben könnten. Das Stück sollte den Konzertsaal politisieren, indem es dem bürgerlichen Konzertpublikum mittels der Zelebrierung seines traditionell-artifiziellen musikalischen Idioms am sozusagen "falschen" Gegenstand den Spiegel vorhielt. Doch ausgerechnet mit diesem symbolischen 70-minütigen Klangrausch landete Rzewski das Erfolgsstück schlechthin.

Ideal des nichtlogischen Folgerns

Aus dem Jahr 2007 stammt ein musikliterarisches Projekt mit dem Titel "Unlogische Folgerungen". Es handelt sich um einen auf englisch gehaltenen Vortrag, den der sprechende Pianist selbst mit Musik begleitet. Philosophisch-essayistische Textfragmente, die sich mit Fragen des Sinns von Musik befassen, werden unterbrochen durch Ausschnitte aus seinem Klavierstück "Fougues" von 1994.
"Ist das, was ich Wirklichkeit nenne, geordnet oder ungeordnet?" fragt Rzewski zu Beginn.
Eigentlich geht es um alles Mögliche: Wahrheit, Wirklichkeit, Wahrnehmung, Logik und Rationalität, musikalische Form, Fortschritt und dessen Symbole. Vieles davon geht auf Anregungen seines ersten Musiklehrers Charles Mackey zurück, dessen offene Haltung er an den Eliteuniversitäten später vermisst hatte.
Der Vortrag umfasst eine kurzweilige Mischung von kulturtheoretischen Grundannahmen und persönlichen Beobachtungen: "Manche Dinge", heißt es da, "können Ursachen haben, andere nicht" und: "In dem unmöglichen Dialog zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen entkommt die Musik den Einschränkungen beider und erlangt zuweilen (zumindest möglicherweise) eine flüchtige Ahnung von der Wirklichkeit oder der Wahrheit." (Deutsche Übersetzung zitiert aus dem Schriftenband Frederic Rzewski im Verlag MusikTexte)

Frederic Rzewski
Unlogische Folgerungen
Ein Vortrag mit Musik

A Life (1992) für Klavier
John Cage gewidmet

Frederic Rzewski, Klavier, Sprechstimme
Aufzeichnung vom 13.10.2007 im Kölner Loft

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