Der Abgrund der Gefühle

30.09.2009
Henry James erzählt von Menschen, die zu spät kommen: Sie kennen sich mit sich selbst nicht aus, verspäten sich mit ihren Gefühlen und verpassen darüber das Leben.
Diese tragische Grundkonstellation unterläuft der amerikanische Schriftsteller mit einer ironische Note – denn alle fünf Geschichten, die zwischen 1866 und 1884 entstanden, jetzt zum ersten Mal in deutscher Sprache erscheinen und unter dem Titel "Benvolio" im Manesse Verlag vorliegen, sind in der Oberschicht angesiedelt und handeln von Personen, die es eigentlich besser wissen könnten.

Wie in seinen großen Romanen operiert James mit einem Erzähler, der sich kommentierend einmischt, diese oder jene gehässige Bemerkung über seine Figuren fallen lässt und den Leser zur Hypothesenbildung zwingt. Dabei kommt es zu aufschlussreichen Erkenntniszweifeln: Je nach Blickwinkel verändert sich die Beurteilung einer Situation.

In der Titelgeschichte steht ein junger Mann namens Benvolio im Mittelpunkt, der ein gewinnendes Wesen hat, tiefsinnige Verse schreibt und zwischen einer schönen, wohlhabenden, mit allen Wassern der Konversationskunst gewaschenen Gräfin und einer nicht minder bestrickenden, hochbegabten, schlichten, wahrhaftigen Philosophentochter hin- und her gerissen ist. Mit der atemberaubenden Gräfin unternimmt er Landpartien, tanzt auf Bällen, lässt sich von ihr zu spitzfindigen und sehr erfolgreichen Theaterstücken inspirieren.

Mit der Philosophentochter steht er intellektuell auf einer Ebene: Sie regt ihn zu geistigen Höhenflügen an, und in ihrer Gegenwart fühlt er sich ungleich freier. So geht es ein paar Jahre, bis schließlich die Frauen selbst die Initiative ergreifen. Die Gräfin macht der finanziell kärglich ausgestatteten Philosophentochter ein Angebot und vermittelt sie als Gouvernante nach Übersee. Benvolio kommt der Intrige auf die Spur, aber der verwöhnte junge Mann ist derartig unentschieden, dass er sich nicht einmal zu veritablem Liebeskummer durchringen kann.

In der Geschichte "Longstaffs Heirat" geht es um zwei junge Amerikanerinnen auf Europareise. Die wohlhabende Diana wird von ihrer mittellosen Cousine Agatha begleitet. Als sich die beiden in Nizza aufhalten, entbrennt ein von Schwindsucht gezeichneter englischer Adliger für Diana und bittet sie am Totenbett, seine Frau zu werden – dann könne er mit dem Gefühl sterben, wenigstens einen Moment lang glücklich gewesen zu sein. Empört lehnt Diana ab. "Und wenn er nicht stürbe?" zischt sie ihrer Vertrauten zu. Am Ende kann sie den jungen Mann aber nicht vergessen und wird schwermütig. Als sie dem wundersam Genesenen ein paar Jahre später in Rom gegenübersteht, stellt sie dieselbe Forderung. Longstaff kommt ihrem Wunsch nach, Diana stirbt.

Mit sezierendem Blick legt James das Korsett gesellschaftlicher Gepflogenheiten bloß. Die Liebe, die eigentlich ein anarchisches Moment bergen müsste, ist dabei sein bevorzugtes Sujet. James lässt Befindlichkeiten aufeinanderprallen und macht Projektionen zum Motor des Geschehens: Das Ich ist kaum mehr als ein Produkt seiner Umgebung. Sein eleganter Plauderton überwölbt die für seine Zeit hochmodernen Perspektivbrüche und Standpunktverschiebungen. Es sind Geschichten, in denen sich die vermeintliche Wirklichkeit als vielschichtiges Gebilde entpuppt. Kostproben eines scharfsinnigen Psychologen, dem kein Abgrund zu tief ist.

Besprochen von Maike Albath

Henry James: Benvolio
Aus dem Amerikanischen von Ingrid Rein
Manesse Verlag, Zürich 2009
414 Seiten, 22,95 Euro