Den Menschen zuhören

Politische Fallstricke einer schönen Idee

Zuhör-Tour der CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer
Zuhör-Tour der CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer im Juni 2018 in Rheinland-Pfalz. © imago/Sascha Ditscher
Überlegungen von Svenja Goltermann und Phillip Sarasin · 23.01.2019
„Ich bin gekommen um zuzuhören“, dieser Satz fällt oft, wenn sich Politiker und Bürger begegnen. Klingt gut, bescheiden und den Menschen zugewandt – hat aber durchaus seine Tücken, meinen die Historiker Svenja Goltermann und Phillip Sarasin.
Der Bundespräsident will es vermehrt tun, die Regierung ebenfalls und die französischen Gelbwesten fordern es wütend. "Zuhören", so scheint es, ist das Gebot der Stunde – gerade im politischen Raum. Haben Menschen denn einander nicht schon immer zugehört? Zweifellos. Doch erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird das Zuhören vermehrt thematisiert. Zunächst propagierten die westlichen Besatzungsmächte die Diskussion als eine demokratische Technik. Von den Westdeutschen wurde sie bereitwillig aufgenommen. Doch Zuhören konnte vieles bedeuten. Für Willy Brandt etwa war es 1969 mit dem Versprechen verbunden "Wir wollen mehr Demokratie" wagen!

Zuhören als therapeutischer Akt

Zu diesem Partizipationsversprechen kam damals aber auch noch eine weitere Art des Zuhörens: Psychologen sprachen – und sprechen bis heute – vom Aktiven Zuhören. Dieses richtige Zuhören erfordere Empathie, mit der sich die Zuhörer die Perspektive der Sprechenden zu eigen machen. Erst dadurch könnten sie den zu ihnen Sprechenden helfen, sich besser zu verstehen und somit ihre Probleme zu lösen.
Auch heute bezieht die Forderung zuzuhören, ihre Kraft aus dem Partizipationsversprechen. Gleichzeitig aber gewinnt man den Eindruck, dass das therapeutische Anliegen dominiert. Nun gilt im therapeutischen Raum und im moralischen Diskurs des Anerkennens: Wem zugehört wird, der weiß, dass seine Sorgen und Leiden, aber auch seine Wahrheit gehört werden. Die Idee jedoch, mit dieser therapeutischen Haltung auch die Gesellschaft zu heilen, basiert auf der Vorstellung, man könne im politischen Raum ebenso sprechen wie im persönlichen oder therapeutischen Gespräch.
Eine solche Idee erzeugt die Illusion, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Interessen sich durch Sprechen und Zuhören versöhnen ließen. Und die Forderung, wir sollten endlich wieder zuhören, legt nahe, dass unsere Gesellschaften in einem imaginären Früher irgendwie Zuhör-Gesellschaften gewesen seien.

Der Traum von einer "heilen" Gesellschaft

Anders gesagt: Die Rede vom empathischen Zuhören im Raum des Politischen erzeugt in erster Linie die Illusion, Gesellschaften könnten wieder Gemeinschaften werden. Wenn Kitsch, wie der Philosoph Burkhardt Schmidt einmal sagte, "der schnellste Weg zur Versöhnung" ist, dann ist Zuhören der hegemoniale Polit-Kitsch unserer Tage. Es ist der Traum davon, dass die Gesellschaft letztlich heil und ohne Konflikte sein könnte, wenn man sich nur gut zuhören würde; wenn jeder seine Wahrheit sagen und jeder und jede anerkannt würde.
Die Annahme, dass Politik und die Mechanismen des gesellschaftlichen Ausgleichs allein auf dem Diskurs und wechselseitiger Anerkennung basieren würden, ist eine Falle. Denn die Forderung, richtig zuzuhören, führt in eine Spirale ohne Stopp-Regel. In einer Gesellschaft, in der der Wunsch nach Gehörtwerden und nach Anerkennung imperativ geworden ist, liegt es in der Logik des Von-sich-Sprechens, dass das Zuhören nie an ein Ende kommen darf; dass man sich nie ganz verstanden fühlt und man immer noch mehr Zuhören brauchen könnte.

Ein Anspruch, der nie erfüllt werden kann

Das politische Sprechen und Zuhören in der Demokratie kennt Grenzen, Verfahren und das Delegieren des Weitersprechens an Politiker und Amtsträger. Wenn das auf Anerkennung schielende Zuhören hingegen zur Essenz des Politischen wird, gerät Politik in die Spirale, nie genug zuhören zu können. Sie folgt dann einem Anspruch, den sie nicht erfüllen kann, weil sie nicht mehr versucht, unterschiedliche, auch gegenläufige Interessen zu vermitteln, sondern die vielen Einzelnen, denen sie zuhört, anzuerkennen. Daran kann sie nur scheitern – und produziert diese unerfüllbare Forderung, geradezu panisch, ständig von neuem.

Svenja Goltermann ist Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Sie ist Mitglied des Kom¬pe¬tenz¬¬zen¬trums "Geschichte des Wissens", Heraus-geberin der Zeit¬schrift Geschichte und Gesellschaft und Heraus¬geberin von Geschichte der Gegenwart. Ihre jüngste Buchpublikation ist "Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne" (S. Fischer 2017).




Philipp Sarasin ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Er ist Mitbegründer des Zentrums "Geschichte des Wissens" und Heraus-geber von Geschichte der Gegenwart. Seine jüngste Buchpublikation ist "Darwin und Foucault. Geschichte und Genealogie im Zeitalter der Biologie" (Suhrkamp 2009, Neuausgabe 2019).

Svenja Goltermann ist Historikerin an der Universität Zürich und Autorin des Buches"Opfer – Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne"
© Svenja Goltermann
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