Den Bildern einen Klang geben

Von Martin Koch · 20.02.2007
Am Rande des Filmbetriebs fristet der Stummfilm ein Leben im Verborgenen. Zu Unrecht, findet Stephan von Bothmer. Der Komponist und Pianist setzt sich für eine Wiederbelebung dieser Kultur ein und macht aus einer Vorführung ein Stummfilmkonzert.
"Ich geh nicht mit festen Ideen auf die Bühne, und drum weiß ich auch, wenn der Projektor angeht, noch nicht den ersten Ton."

Voll konzentriert sitzt Stephan von Bothmer am Flügel auf der Bühne des Berliner Varietés "Wintergarten" und schaut auf die Leinwand – während seine schlanken Hände wie losgelöst über die Tasten wirbeln. Der 35-Jährige begleitet den Emil-Jannings-Film "Alles für Geld" aus dem Jahr 1923. Einfühlsam übersetzt er das Gesehene in Töne: Spitzt sich die Situation zu, spielt er dramatisches Forte, entspannt sie sich, wechselt er übergangslos ins Beschwingt-Fröhliche. Alles frei improvisiert – und jede Aufführung ein Unikat.

"Das ist ne Äußerung von mir gegenüber dem Film in dieser Situation mit diesem Publikum in diesem Raum. Und alles spielt ne Rolle. Und wenn ich vorher – ist ja zum Glück nicht so – von meiner Frau verlassen würde, dann würde ich den Film bestimmt sehr anders begleiten und bestimmte Aspekte vom Film viel mehr hervorheben als andere, und das würde eben auch bestimmte Leute im Publikum mehr ansprechen, das hat immer auch seinen Sinn."

Seit zweieinhalb Jahren steckt Stephan von Bothmer viel Zeit und Geld in das von ihm entwickelte Konzept zur Wiederbelebung des Stummfilms: die Musik ist nicht mehr nur beliebige Begleitung, sie steht gleichberechtigt neben dem Film. Auf diese Weise hat er bereits mehr als 8000 Besucher erreicht. Und viele kommen wieder, beeindruckt von seiner Hingabe und Begeisterung für Stummfilme – und für die Musik. Sie ist für den Mann mit den wachen blaugrünen Augen hinter der schmalen Brille die bestimmende Kraft:

"Alles, was ich weiß, – und ich denk sehr viel über erkenntnistheoretische oder philosophische Dinge nach – weiß ich aus der Musik. Alle, was ich über Menschen weiß, weiß ich aus der Musik. Und ich seh Musik einfach überall. Alles, was ich anfasse, ist für mich kristallisierte Musik. Sie ist allgegenwärtig und es durchdringt auch alles."

Diese geradezu mystische Faszination der Musik hat er schon sehr früh gespürt: als Sechsjähriger fand Stephan von Bothmer auf dem Rittergut seiner Eltern in Lauenbrück – einem Dorf zwischen Hamburg und Bremen – in einer Garage ein uraltes Klavier. Stunden und Tage verbrachte der kleine Graf dort und entlockte dem halb vermoderten Instrument alle möglichen Töne. Er machte "Geistermusik", wie er es damals nannte.

"Als Kind hab ich gedacht: Wenn ich wiedergeboren werde, dann als Klang, wenn ich’s mir aussuchen könnte. Aber dann war mir das zu jenseitig und zu weit weg, ich mein, ich war ja ein Kind und wollte erstmal leben, und dann hab ich gedacht: Du musst dem Klang so nahe kommen wie möglich – und hab mich als Klangforscher bezeichnet. Und mit eigener Musik geht das vielleicht noch besser. Der Gedanke war eigentlich von Anfang an da, bloß dass keiner meiner Familie Musiker war und mir deshalb erstens nicht helfen konnte und zweitens auch nicht dran geglaubt hat, dass man das erreichen kann."

Sein Vater, der vielbeschäftigte Landrat, und seine in zahlreichen Gremien und Vereinen engagierte Mutter gewährten ihm und seinen vier Geschwistern zwar alle Freiheiten, doch wirklich verstehen konnten sie die Ambitionen ihres Zweitältesten nicht. Immerhin ließen sie ihn Klavierunterricht nehmen. Stephan von Bothmer gründete, beeinflusst von Gruppen wie Pink Floyd, eine eigene Rock-Band und komponierte mit einem Freund ein semi-professionelles Musical.

Nach Abitur und Heeresmusikkorps ging er – zumindest räumlich – auf Distanz zu seinen Eltern: Erst an die Jazz- und Rockschule in Freiburg, dann studierte er an der Berliner Universität der Künste und machte dort ein Einser-Examen. Was blieb, war das Gefühl, nicht verstanden zu werden.

"Ich saß immer zwischen allen Stühlen, insbesondere was populäre Musik und Klassik angeht und ich wusste nie, wo ich hingehöre. Und alle, wo ich war, haben immer gesagt ‚Du gehörst ja eigentlich gar nicht zu uns!’"

Diese Erfahrungen haben ihn damals stark verunsichert. Kraft gaben ihm seine Frau Petra, die in Teilzeit als Apothekerin arbeitet, und Tochter Maja. Er selbst erspielte seinen Beitrag zur Haushaltskasse mühsam als Barmusiker. Doch seinen Lebenstraum hielt er lebendig: die Stummfilmkonzerte!

"Aber daran hat niemand geglaubt, und schon gar nicht in Berlin. Und dann hab ich irgendwann gesagt: ‚Jetzt mach ich’s einfach selber’ und hab damals für meine Verhältnisse sehr viel Geld in die Hand genommen und hab in der Passionskirche das organisiert und hatte bei der ersten Veranstaltung 250 Leute!"

Mit auf der Bühne war auch Willy Sommerfeld, der wohl bekannteste deutsche Stummfilmpianist. Eigentlich wollte der gar nicht mehr auftreten, aber bei einem gemeinsamen Teetrinken hat Stephan von Bothmer ihn dann doch überzeugt – durch sein Klavierspiel:

"Als ich fertig war, hat er gesagt: ‚Ich bin dabei’. Und das war klasse. Und wir haben dann quasi ein Doppelkonzert gespielt, er hat einen kurzen Film gespielt und ich einen längeren und er war eben wieder auf der Bühne, mit 101 damals, und hat super gespielt, kam super an, nach fünf Jahren das erste Mal wieder, und das war klasse, und das verbindet mich natürlich sehr mit ihm, und danach hat er dann auch gesagt ‚Das gefällt mir, wie du das machst und du wirst mein Nachfolger’."

Das Leuchten in den Augen verrät: Dieser "Ritterschlag" ist für Stephan von Bothmer wichtiger als jeder geerbte Adelstitel, und Ansporn für viele weitere Stummfilmkonzerte.