"Dem Himmel ganz nah"

Gesehen von Hans-Ulrich Pönack · 12.10.2011
Zwischen Bären und Wölfen, auf einer abgelegenen Alm in Transsylvanien, leben der Schafhirt Dumitru Stanciu, seine Frau Maria und sein Sohn Radu wie vor vielen hundert Jahren. Der Berliner Regisseur Titus Faschina hat die Familie begleitet. Eine spektakuläre Dokumentation mit Tiefgang.
Das ist für mich selbst eine Überraschung: Wir haben es in dieser Woche mit insgesamt elf neuen Kinofilmen zu tun. Dass mich darunter ganz besonders ein Film beeindruckt, für den rein von der Beschreibung her wenig spricht, kommt auch nicht alle Tage, Wochen oder Monate vor.

Erstens: Es handelt sich um einen Dokumentarfilm. Zweitens: Er ist in Schwarz-Weiß hergestellt worden. Drittens: Er spielt in den rumänischen Karpaten. Viertens: Er erzählt von einer dort lebenden dreiköpfigen Schäfer-Familie. Fünftens: Er läuft in der Originalfassung mit deutschen Untertiteln. Sechstens: Noch was? Ach ja:Im "Kultur-SPIEGEL", Ausgabe Oktober 2011, stand die tollste Kritik, die ich je gelesen habe:

"Glaubt eh keiner, dass eine Schwarzweiß-Doku über einen Berghirten in den rumänischen Karpaten ein fesselndes, bildgewaltiges Kinoerlebnis sein kann. Ist aber so."

Zum Regisseur Titus Faschina: Geboren 1964 in Ost-Berlin. Ausbildung zum Werbegestalter 1982. Abitur 1987. Studium der Theater- und Kommunikationswissenschaft, Germanistik und Dramaturgie an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Hochschule der Künste, Berlin. Diplom 1995. Promotion zum Dr. phil. an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1999. Thema: "Mythenbildung und moderne Rezeption in traditionellen Gesellschaften Siebenbürgens/Transsilvaniens". Seitdem als freier Autor/Redakteur für verschiedene Publikationen bei diversen wissenschaftlichen Projekten und Tätigkeiten "unterwegs". Thematischer Schwerpunkt: die Kulturen Südosteuropas, speziell des Karpatenraums.

Liest sich "hochkulturell". Intellektuell verbrieft. Riecht mehr nach Aufgabe denn nach Kino. "Dem Himmel ganz nah" ist aber Kino. In vollem Umfang. Also visuell wie dramaturgisch. Beziehungsweise umgekehrt. In Zeiten vieler virtueller Welten, des digitalen Zeitalters, der blitzschnellen globalen Kommunikation halten wir auf einmal ein.

Allerdings ohne System- oder Zeitkritik. Ohne Botschaft mit dickem Ausrufungszeichen. Ohne gewaltiges Betroffenheits-Trara. Die Beteiligten: Maria, Dumitru und Radu Stanciu (16). Die Familie. Sie leben auf einer Alm in den Karpaten. Viele sind inzwischen dort weg, sie aber halten es aus. Entbehrungsreich, aber zufrieden. Freiwillig. Ohne Stromanschluss, also auch ohne Fernsehen und Internet, inmitten ihrer Tiere. Schafe. Hund. Pferd. Klaglos.

Nun gut, Hilfskräfte wären nicht schlecht, dann hätten sie noch mehr Schafe, aber es will halt keiner mehr hier sein. Also packen sie es alleine an. Alle drei. In der faszinierenden landschaftlichen Weite des transsilvanischen Karpatenbogens, ganz nah am Himmel entlang. Wo die Mythen der Berge leben, zwischen Bären und Wölfen.

Der Berliner Dokumentarfilmer begleitet die Familie über einen Jahreszyklus hinweg bei den täglichen Verrichtungen. Schafe hüten, Schafe scheren, Schafe melken, Käse zubereiten, beim Schlachten, bei der Landbestellung. Manchmal geht es hinunter in die Stadt. Zum Verkaufen. Zum Gottesdienst. Oder wenn Radu erst zu Fuß durch den Wald und dann mit dem Bus in Richtung Berufsschule in der Kreisstadt Sibiu unterwegs ist. Dann wird etwas Zivilisation sichtbar. Ansonsten ist man in dieser nordwestlichen rumänischen Einöde unter sich. Spricht kurz darüber. Über Gegenwart und mögliche Zukunft. Was einmal war, jetzt ist und möglicherweise werden wird.

"Dem Himmel ganz nah" ist grandiose "normale" Spiritualität. Völlig unspinnerhaft. Ganz im Gegenteil: Vater Dumitru ist Realist und eine Art rumänischer Schwejk: Hat das Schmunzeln in seinen Augen. Stoisch und gelassen. Mit sich im Reinen. Im ewigen Kreislauf. Von Zeiten und Leben. In dieser prächtigen Landschaft.

Große Bilder, fantastische Gedanken. Unsere "andere Welt". Tiefes Eintauchen, Einlassen möglich. Erwünscht. Ein spannender Tiefseelen-Film. Spektakulär einfach. Mit ebensolcher kräftiger einheimischer Atmo-Musik (Komposition: Alexander Balance).

Was für ein Kino-Erlebnis: "Dem Himmel ganz nah" ist ein faszinierendes Doku-Stück mit viel packender Seelen-(An-)Bindung. Sehr, sehr, sehr beeindruckend.

Deutschland/Rumänien 2010; Regie: Titus Faschina; Darsteller: Maria, Dumitru und Radu Stanciu; schwarz-weiß; Original mit deutschen Untertiteln; 97 Minuten; ab 6 Jahren

Filmhomepage "Dem Himmel ganz nah"