Debatte um Pflichtbesuche in KZ-Gedenkstätten

Warnung vor zu viel Illusionen

Schienen laufen auf einen Turm des ehemaligen NS-Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zu.
Das ehemalige NS-Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau © dpa
Jörn Rüsen im Gespräch mit Katrin Heise · 13.01.2018
Auch der Besuch einer KZ-Gedenkstätte immunisiere nicht gegen rechtsradikale Einstellungen, sagt der Historiker Jörn Rüsen. Dennoch sei eine solche Erfahrung gerade für jüngere Menschen "unglaublich eindrucksvoll". Die didaktischen Herausforderungen seien allerdings groß.
In der Debatte, ob Besuche von KZ-Gedenkstätten insbesondere auch für Zuwanderer und Flüchtlinge verpflichtend sein sollten, warnt der Historiker Jörn Rüsen vor zu großen Erwartungen.
Ein einziger Besuch mache nicht immun gegen rechtsradikale Einstellungen. "Das halte ich für eine vollkommene Illusion", sagte Rüsen im Deutschlandfunk Kultur.
Andererseits sei "die unmittelbare Wahrnehmung dieser Menschheitsverbrechen" gerade für jüngere Leute unglaublich eindrucksvoll.
"Wenn man das mal gesehen hat, so eine Zelle, in der Leute gefoltert worden sind. Oder so eine Anlage, wo man mit Genickschüssen die Leute umbringt, das geht einem doch schon ganz schön an die Nieren."

Prozesshaftigkeit und Veränderbarkeit der menschlichen Welt

Wichtig sei, dass solche Eindrücke in einen "Zusammenhang" gebracht würden und dass das Grundsätzliche herausgearbeitet würde:
"Wenn man hier einen Prozess lernen kann, wie es dazu kommt, dass eine doch ziemlich zivilisierte Nation wie die Deutschen innerhalb relativ kurzer Zeit bereit war, ein solches Verbrechen zu begehen - da kann man schon was lernen!"
Die Hauptbotschaft einer solchen Geschichtsdidaktik sei es zu vermitteln, dass wir als Menschen Rechte haben und dass politische Herrschaft daher begrenzt und rechtlich geregelt werden muss, sagte Rüsen: "Das ist der Kern dessen, was die Jugendlichen lernen müssen."
Zu diesem Lernen gehöre aber auch, beispielsweise Jugendliche mit einem türkischen Migrationshintergrund auf den Völkermord des Osmanischen Reisches an den Armeniern aufmerksam zu machen.
(huc)

Das Interview mit Jörn Rüsen im Wortlaut:
Katrin Heise: Vorschlag: den Besuch einer KZ-Denkstätte verpflichtend für jede Person zu machen, die in Deutschland lebt, also auch für jeden Asylbewerber, für jeden Flüchtling. Dieser Vorschlag der SPD-Politikerin Sawsan Chebli stieß, wie nicht anders zu erwarten war, auf sehr geteiltes Echo. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, findet solche Besuche, wenn sie gut vorbereitet sind, sinnvoll, der Vorsitzende des Kultusministerkonferenz, das ist Thüringens Bildungsminister Helmut Holter, der ist dagegen, von "du musst" überhaupt nicht überzeugt. Ich freue mich jetzt, dass ich mit Jörn Rüsen spreche, Historiker, Kulturwissenschaftler und versierter Geschichtsdidaktiker. Schönen guten Tag, Herr Rüsen!
Jörn Rüsen: Guten Tag!
Heise: Das Anliegen ist ja klar, Herr Rüsen: Ein Bewusstsein für die deutsche Geschichte soll geschaffen werden. Das ist ja auch unwidersprochen sinnvoll, aber was kann auf diesem Weg zu diesem Bewusstsein ein Besuch in einer KZ-Gedenkstätte eigentlich erreichen?
Rüsen: Also zunächst mal ist ein solcher Besuch sicher sinnvoll für Lernprozesse, in denen sich Geschichtsbewusstsein bildet. Ich halte gar nichts davon, wenn der Staat mit Vorschriften kommt dieser Art. Dahinter steckt ja die Idee, wer einmal eine solche Gedenkstätte besucht hat, ist gefeit gegen rechtsradikale Einstellung, und das halte ich für eine vollkommene Illusion. Alle Erfahrungen, die wir machen mit Besuchern, sprechen dagegen. Andererseits ist die unmittelbare Wahrnehmung dieser Menschheitsverbrechen, gerade für jüngere Leute, für empfindlichere jüngere Leute, unglaublich eindrucksvoll.
Heise: Ich wollte gerade sagen, dass wir uns ja alle vom Thema genervte Jugendliche, die da so scheinbar gelangweilt durch eine Gedenkstätte geschoben werden, die können wir uns alle vorstellen, aber ich glaube, hängen bleibt dann doch immer was, oder?

"Das geht einem doch schon ganz schön an die Nieren"

Rüsen: Wenn das halbwegs anständig vorbereitet wird, wird eine Menge hängen bleiben. Wenn man das mal gesehen hat, so eine Zelle, in denen Leute gefoltert worden sind, oder so eine Anlage, wo man mit Genickschüssen die Leute umbringt, das geht einem doch schon ganz schön an die Nieren, aber daraus ein didaktisches Prinzip zu machen und zu meinen, wenn man das nur sieht, dann ist man geheilt gegen Neonazi- und rechtsradikale Einstellungen, das ist eine große Illusion. So einfach ist das nicht.
Heise: Was würden Sie denn dem zur Seite stellen? Einmal, Sie haben gesagt, eine im Unterricht vernünftige Vorbereitung, aber ich höre daraus natürlich eine genauso vertiefte Nachbereitung.
Rüsen: Selbstverständlich. Das muss in einen Zusammenhang gebracht werden. Das soll ja keine Überwältigungsdidaktik sein, indem man dann gleichsam Emotionen in die jungen Leute reinprügelt und meint, der Rest ergibt sich dann. Nein, die sollen ja auch nicht nur fühlen. Das ist schon sehr wichtig, aber das Denken muss dabei nicht stillgestellt werden. Im Gegenteil, das muss angeregt werden. Die Frage ist nur, es hat sich ja in der ganzen Situation des schulischen Unterrichts ganz erheblich was geändert, weil wir ja zum Teil Klassen haben, in denen 70 und mehr Prozent der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund haben.
Heise: Auf die wollte ich Sie auch gerade ansprechen, denn die bringen ja ganz andere Vorbildung beziehungsweise Vorerfahrungen mit. Viele haben Verfolgung, Flucht, Kriegserfahrung zumindest in ihrer unmittelbaren Familiengeschichte. Die gehen ganz anders in so eine Ausstellung hinein.
Rüsen: Die haben auf jeden Fall, viele von denen, außerordentliche Unmenschlichkeitserfahrungen gemacht, und der Holocaust ist der Gipfel oder einer der Gipfel der Unmenschlichkeit in der historischen Erfahrung. Wenn man das entsprechend auf so eine Basis stellt von Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, wenn man hier einen Prozess lernen kann, wie es dazu kommt, dass eine doch ziemlich zivilisierte Nation wie die Deutschen innerhalb relativ kurzer Zeit bereit waren, ein solches Verbrechen zu begehen, - da kann man schon was lernen! Also wenn man das elementarisiert, und ich finde, das sollte man tun, dann spricht das jeden an, und daher nun noch sehr viele dieser jungen Leute mit Migrationshintergrund aus der Türkei kommen, dann haben die Lehrer die Aufgabe, denen klar zu machen, dass sie aus einer Kultur kommen, in der etwas ähnliches passiert ist, und dann wird es schwierig, denn das wollen die nicht hören. Das wird ja auch bestritten, dass das ein Völkermord war.
Heise: An den Armeniern, meinen Sie jetzt. Also das heißt, Sie sind dafür, ganz andere Diskussionen dann zu führen. Jetzt sprechen wir aber in dem Zusammenhang mit dem Vorschlag, der gemacht worden ist, gar nicht nur von Kindern und von Schule, sondern überhaupt von Migranten, die in unserem Land leben. Dieser Vorschlag ist ja sehr weitreichend gemacht worden.
Rüsen: Da wäre ich dann doch sehr skeptisch. Ich finde ja, dass diejenigen, die hier bei uns leben wollen, in der Tat sich an unsere kulturellen Traditionen anpassen müssen, und dass es solche Traditionen gibt, das kann man schlecht bestreiten. Nur, dass man denen gleichsam die deutsche Kultur, das spezifisch Deutsche an der Geschichtskultur nun ausgerechnet am Holocaust festmachen will, das ist ja nicht ganz unproblematisch. Das hat zwar Tradition bei uns, also die ältere Generation, zu der ich gehöre, ist schon zutiefst von dieser Erfahrung bestimmt, und die Profihistoriker, zu denen ich ja auch gehöre, zum größten Teil, dass unser Verhältnis zur Vergangenheit ganz tief durch die Naziverbrechen bestimmt ist und dass wir uns damit auseinandersetzen müssen, aber da kann man doch keine allgemeine politische Verhaltensregel draus machen und sagen, so, jeder Fremde, der hier eingebürgert werden will, der muss das jetzt machen.

"Der Geschichtsunterricht hat sich im Wesentlichen auf die westliche Geschichte beschränkt"

Heise: Wenn ich in Ihnen jetzt den Historiker und den Didaktiker noch mal anspreche: Was ist denn wirklich wichtig, um ein Bewusstsein für die deutsche Geschichte zu entwickeln?
Rüsen: Zunächst einmal wichtig ist, dass überhaupt ein Bewusstsein gepflegt wird über die Prozesshaftigkeit, über die Veränderbarkeit der menschlichen Welt. Ich finde auch, wir sollten auch nicht nur auf deutsche Geschichte abheben – das müssen wir tun, schließlich sind wir Deutsche, und selbst wenn das einigen Leuten überhaupt nicht passt und sagen, wir sind postnational, Deutsche sind wir trotzdem –, es muss nicht nur von Deutschland die Rede sein, sondern immer auch von Deutschland in Europa und letztlich auch Europa in der Welt. Wir leben ja in einer Zeit, einer intensiven interkulturellen Diskussion, aber der Geschichtsunterricht hat sich im Wesentlichen auf die westliche Geschichte beschränkt. Über Indien erfahren die jungen Leute so gut wie nichts, über China ebenfalls nichts. Also da gibt es ein Defizit. Nur, man kann den Unterricht nicht vollpacken mit Themen, sondern man muss ins Grundsätzliche gehen. Deshalb betone ich diesen Menschheitscharakter. Diese Errungenschaft, dass wir als Menschen Rechte haben, dass die politische Herrschaft durch diese uns zueigene Menschlichkeit begrenzt und rechtlich geregelt werden muss, das ist Kern dessen, was die Jugendlichen lernen müssen, und das ist eine Angelegenheit, die im Prozess ist.
Heise: Meint Jörn Rüsen, emeritierter Professor für allgemeine Geschichte, über die Frage, wie wird Geschichtsbewusstsein eigentlich gebildet. Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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