Sachsen-Anhalt

Sprechende Häuser in Quedlinburg

Forsythien blühen an einem Strauch in Quedlinburg
Stadt mit Geschichte: Das Rathaus von Quedlinburg. © dpa / picture alliance / Matthias Bein
Von Christoph Richter · 05.05.2015
Quedlinburg in Sachsen-Anhalt ist eine der besterhaltenen Fachwerkstädte weltweit. Die bis zu 700 Jahre alten Häuser können alle eine Geschichte erzählen - was sie jetzt auch tun. Touristen brauchen dafür nur ein Smartphone.
"Ich bin höchstwahrscheinlich um 1640 gebaut worden, so genau weiß ich das nicht mehr. Aber das mein Erbauer Gabriel Goldfuß hieß, ein bekannter Ratszimmermeister in Quedlinburg zu dieser Zeit, das habe ich nicht vergessen."
Heute wohnt im Marktkirchhof 11 der 47-jährige CDU-Landtagsabgeordnete Ulrich Thomas. Es ist seine Idee, in der mittelalterlichen UNESCO- Weltkulturerbe-Stadt Quedlinburg – in der bis heute etwa 1.300 Fachwerkbauten erhalten geblieben sind – die Häuser zum Sprechen zu bringen.
Das passiert mittels eines kleinen schwarz-weiß gepunkteten Codes, dem sogenannten QR-Code. Der ist auf kleinen gelben Plastikschildern in Häuschen-Form an den Hauswänden angebracht. Scannt ein Passant den mit seinem Smartphone, hört man – aus dem Munde der heutigen Besitzer - illustre Geschichten aus etwa sieben Jahrhunderten.
"Mein erster Besitzer war ein gewisser Otto Bächlik, von Beruf Kürschner-Meister. 1703 wurde ein gewisser Johann Christoph Linde mein Eigentümer, er eröffnete eine Drechslerei."
Geschichten per Smartphone und QR-Code
Individuelle Stadtgeschichten, zu hören: 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag. Ohne Stadtführer, nur mit dem Handy in der Hand. Gerade junge Menschen sollen damit angesprochen werden. Tourismus 3.0 nennt es der zweifache Vater Ulrich Thomas, ein großer schlanker Mann:
"Ja, natürlich habe ich jetzt keine Berichte von den Leuten, wie sie gelebt haben. Ich muss doch mehr über Quellen berichten, die ich habe. Das sind oft die Einwohnermeldeämter, die Kirchenbücher, die Auskunft geben, wer wo gewohnt hat. Man hat in etwa eine Vorstellung. Aber natürlich – klar wissen wir, dass es ein Bad oder WC nicht gab. Insgesamt kann jeder, der ein Haus saniert hat, schon ein bisschen erahnen, unter welchen schwierigen Verhältnissen – heute würde das wahrscheinlich niemand mehr machen – in diesen Häusern, ich sag jetzt mal wirklich bewusst das Wort, die Menschen gehaust haben."
Ulrich Thomas hatte 1990 - mit Anfang 20 - für etwa 400.000 D-Mark das Haus am Marktkirchhof in der Nähe des Rathauses gekauft. Ein ockerfarbenes denkmalgeschütztes schmales Fachwerkhaus, mit markant kreuzförmig verlaufenden schwarzen Balken. Die oberen, etwas windschiefen Stockwerke ragen über die Unteren auf die Straße hinaus. Auskragungen nennt man das, ein typisches Markenzeichen der Fachwerkarchitektur des 16. Jahrhunderts.
"Ab 1896 wohnte mit Friedrich Müller sogar ein Bürgermeister in meinen Wänden. Er war zwar schon außer Dienst. Nicht, dass ich etwas eitel wäre, aber gefreut habe ich mich schon, dass er sich für mich, als sein Heim entschieden hat."
Neben Privatleuten und den Kirchen, sind es Besitzer von Apotheken, Gasthöfen, kleinen Läden die bei der Quedlinburger Privatinitiative "Stadt der sprechenden Häuser" mitmachen. Ulrich Thomas geht es dabei um keine akademische Angelegenheit; sondern um emotionale, mühsam recherchierte Hausgeschichten.
"Um das hier erstmal rauszubekommen…"
…wurde Ortschronist Hasso Storbeck – ein vitaler Mit-70er – erstmal Stammgast im Quedlinburger Stadtarchiv.
"Und, sehen Sie, wenn Sie Sütterlin lesen können. Voraussetzung."
"Aha, Voraussetzung..."
"Ja, dann können Sie alles, wann das hier gebaut wurde, wer es gebaut hat."
Das kann man dann erfahren. Hasso Storbeck recherchiert derzeit, was es mit dem Kaiserhof, dem Quedlinburger Amüsierpalast der Goldenen 20er-Jahre auf sich hat. Die Geschichte dieses Hauses soll in nächster Zeit auch Teil der Initiative "Sprechende Häuser" sein. Doch zuerst müsse man sich durch Berge staubiger Akten wühlen, sagt Hasso Storbeck etwas gequält.
Der Kaiserhof ist ein – heute leerstehendes - schlossähnliches Haus mit herrschaftlicher Stuckfassade, in dem es sich einst die bessergestellten Quedlinburger gutgehen ließen. Tanzten, aßen, flirteten und stritten.
Storbeck zählt auf, wie man am Besten mit der Recherche beginnen sollte, wenn man etwas über die Geschichte seines Hauses erfahren will:
"Passen Sie auf: Zuerst müssen Sie ins Archiv gehen. Da versuchen Sie, ob Sie was kriegen. Bauakten beispielsweise. Oder andere Unterlagen, wie alte Zeitungen. Da stehen ja oft auch Veranstaltungen drin, die Besitzer stehen drin. Dann gehen Sie weiter und versuchen Adressbücher zu bekommen. Dann, wenn Sie die Besitzer haben, dann müssen Sie wieder ausholen, ja, was sind das für Leute gewesen."
Hobby-Historiker müssen Ausdauer haben
Aber genau dass, sei dann aber der mühseligste Teil der Recherche, sagt Hobby-Historiker Hasso Storbeck, während er mit weißen Handschuhen in vergilbten Dokumenten blättert. Jedes Papierchen zählt, sagt er noch, ob es nun eine alte Rechnung, ein Zeitungsausschnitt, ein Bauplan ist oder ob es Auszüge aus Kirchenbüchern oder alten Adressbüchern sind. Besonders die vielen Besitzerwechsel der alten Gebäude machten ihm zu schaffen, ergänzt er noch. Stirnfalten bilden sich auf der lichten Stirn.
Über den Kaiserhof hat Storbeck rausbekommen, dass sich da im 13. Jahrhundert bereits der Hof einer Äbtissin befand, die auch die Erlaubnis hatte, Bier zu brauen. Ein Standort, der über die Jahrhunderte immer wieder überbaut wurde. Mitte des 19. Jahrhunderts entstand an der Stelle ein Bade-, später ein Gesellschaftshaus. Mit repräsentativen Vergnügungsräumen. Es gab auch einen mit Stuck und Fresken ausgestatteten Rokoko-Saal. Storbeck führt durch den Palast allein mit Worten. Man kann die süßliche Patina ausschweifender Feste geradezu mit Händen greifen.
"Warum heißt es Kaiserhof? Weil es zu Ehren des Kaisers gebaut wurde. Und hier waren die Kaiserbilder dran. Und das musste '45 weg, wurde weggenommen."
Wie der Stuck wurden diese Dinge von den Kommunisten, den neuen Herrschern, mit roher Gewalt abgeschlagen, erzählt Rechercheur Storbeck. Um dann aus dem adligen Kaiserhof ein sozialistisches Kulturhaus zu machen. Mit dem illustren Namen "Kulturhaus X. Jahrestag".
"Die wechselvolle Baugeschichte reicht bis in das 13. Jahrhundert zurück. Aus dieser Zeit ist das massive Tonnengewölbe aus Sandsteinquadern im Kellerbereich. Errichtet wurde das Gewölbe ohne Fundament, nur auf gewachsenem Boden. Von diesem Tonnengewölbe war ein Brunnen zugänglich. Das Wasser konnte somit geschöpft werden, ohne das Haus zu verlassen."
Rathaus von Quedlinburg
Stadt mit Geschichte: Rathaus von Quedlinburg© dpa / picture alliance / Vera Findeis
Den Brunnen gibt es heute noch, erzählt Sylvia Marschner. Besitzerin des Hotels Garni in der Breiten Straße. Einst eine der wichtigsten Durchgangsstraßen Quedlinburgs, die in der frühen Neuzeit von vermögenden Handwerkerfamilien bewohnt wurde. Erbaut hat man das gotische Fachwerk Mitte des 13. Jahrhunderts. Vieles ist heute noch original erhalten. Außen: großer rundgewölbter Torbogen, große Fenster. Innen: dunkle holzvertäfelte Wände.
"Um 1690 wurde auf dem Kellergewölbe ein einstöckiges Fachwerkhaus mit einem riesigen Dachgeschoss errichtet. Fast alle Balken die zu sehen sind, sind aus dieser Zeit."
Die massiven Balken aus dem Holz von Nadelhölzern, ziehen sich quer durch die Räume und verströmen noch heute ihren leicht harzigen Duft. Jedes der Zimmer des kleinen Hotels ist individuell gestaltet. Manches ist schief und krumm.
Ein Gasthaus, das an frühere Zeiten erinnert, als man noch mit dem Pferd anreiste. Auch Hotelier Sylvia Marschner hat das kleine gelbe etwa 40 x 40 Zentimeter große Zeichen mit dem QR-Code am Haus angebracht, damit man zu jeder Tag- und Nachtzeit sich die Geschichte ihres Hauses anhören kann.
"Es ist doch einfach toll, wenn ich in eine Stadt komme und einfach sagen kann, das interessiert mich hier und ich mach mein Handy an und kann etwas über das Haus erfahren. Von mir aus könnte an jedem Haus – wir haben 1.300 Fachwerkhäuser – so ein Code hängen mit dem man dann Geschichten erfahren kann. Es ist einfach spannend. Für jeden, der herkommt."
700 Jahre alte Fachwerkhäuser
Die Fachwerkgebäude Quedlinburgs umfassen eine Zeitspanne von etwa 700 Jahren, vom späten 13. Jahrhundert bis ins frühe 20. Jahrhundert. Eines der ersten und damit auch deutschlandweit ältesten Fachwerkhäuser ist der Höllenhof, ein kleiner Quadersteinbau, der eher an eine Mini-Festung erinnert.
"Was in der ganz grauen Vorzeit hier war, können wir nicht nachvollziehen. Es gibt eine Urkunde von 1234, wo ein tieferliegendes Haus erwähnt ist. Da geht es um eine Pachtzahlung an ein Kloster. Damals wurden als Eigentümer bürgerliche Leute, ein Gewandschneider erwähnt..."
...erzählt der aus Jena stammende Rudolph Köhler. Fachwerkspezialist und Inhaber eines kleinen Quedlinburger Architekturbüros, das in jener kleinen jahrhundertealten Mini-Festung zu finden ist.
Von der Idee der "Sprechenden Häuser" hat er erst durch unsere Anfrage gehört. Sei aber eine ideale Schule des Sehens, sagt er. Mache Werbung für einen perfekten, nahezu unverwüstlichen Baustil.
"Entdecken kann man ist – wie ich finde – eine recht spannende Sache. Das Fachwerk ist nämlich das Konzept eines Systemhauses, was schon Jahrhunderte alt ist. Das konnte jeder Zimmermann letztlich. Man brauchte keine Architekten dazu, keine Bauingenieure, sondern es ist ein einfaches Baukastensystem."
Das schnell an jede Mode angepasst werden konnte, aber auch an die sich wandelnden Bedürfnisse der jeweiligen Bauherren. So war es ein Leichtes, auch mal ein Geschoss auf ein bereits Bestehendes drauf zu bauen, wenn der Platz zu klein wurde.
Die Wärmedämmung – keine Erfindung der Neuzeit erklärt Rudolph Köhler, Vater von vier Kindern. Denn Fachwerkhäuser konnten schon immer besonders kostengünstig geheizt werden. Der Hauptgrund, warum sie bei Häuslebauern so beliebt, man kann sagen: ein Bestseller waren.
"Es gab eine sogenannte kleine Eiszeit, wo das Klima zum ausgehenden Mittelalter kälter geworden ist und das einfach die Fachwerk-Bauweise – kostengünstig sowieso – aber rein vom klimatischen her, schlichtweg das angenehmere Raumklima geboten hat. Es war wärmer. Man konnte besser Dämmung realisieren als mit Sandsteinbauten, die doch relativ kalt sind von der Ausstrahlung her sind. Sodass sogar in Einzelfällen Natursteinwände abgebaut und durch Fachwerk ersetzt wurden."
Zusammen mit fünf weiteren Mitarbeitern hat sich Köhler auf die Sanierung alten Fachwerks spezialisiert. Quedlinburg: Für Köhler ein fast mythischer Wohntraum.
"Als ich vor inzwischen fast 15 Jahren herkam, da habe ich schon das Gefühl gehabt, ich bin in einer Theaterkulisse. Wenn es nachts hier menschenleer war und dann diese Beleuchtung und dann diesen engen Gassen. Wie im Theater."
Ein Lebensgefühl, das es so – zumindest in Norddeutschland - nur noch in Quedlinburg gibt. Was auch damit zu tun hat, das eben die einst drei bedeutendsten norddeutschen Fachwerkstädte Braunschweig, Hildesheim und Halberstadt durch den Krieg nahezu komplett zerstört wurden.
Hintergrundinfos auch auf Gebärdensprache
33 Fachwerk-Hausbesitzer konnte Fahrlehrer Ulrich Thomas für seine Initiative "Stadt der sprechenden Häuser" bisher gewinnen.
"Also wir haben jetzt schon nicht die hochprofessionelle Museums-Stimme. Es soll schon der Besitzer sprechen. Aber natürlich haben wir einen gewissen Anspruch. Das ist jetzt keine Jux und Dollerei. Sondern es ist von dem Niveau, dass jeder Tourist sagt: das ist interessant, das hat Spaß gemacht zuzuhören.
Auf Anregung des Gehörlosenvereins hat man jetzt die Geschichten von einem halben Dutzend Häuser auch per Gebärdensprache aufgenommen. Und in Zukunft sollen die Angebote auch mehrsprachig angeboten werden.
Am Ende noch ein letzter Gruß vom Haus Marktkirchhof 11 in Quedlinburg. Wohnsitz von Ulrich Thomas. Seine Idee von der "Stadt der sprechenden Häuser" hat er sich gar hochamtlich, also patentrechtlich schützen lassen:
"Heute beherberge ich eine Familie, sowie eine Fahrschule in meinen Räumen. Und ich freue mich, dass ich mich wieder in einem schönen Gewand präsentieren darf. Nun habe ich aber genug von mir erzählt. Ich bin auch schon ganz müde. Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei dem weiteren Erkunden der vielen anderen sprechenden Häuser hier in Quedlinburg."
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