Debatte über AfD-Erfolge in Ostdeutschland

Eher veränderungserschöpft als diktatursozialisiert

Graffiti "Der Heimat treu" an einer Hauswand in Brandenburg.
In Ostdeutschland wird viel rechts gewählt, doch das war nicht immer so, sagt der Soziologe Steffen Mau. © imago images / serienlicht
Steffen Mau im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 01.06.2021
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31 Jahre nach DDR-Ende soll die Sozialisierung der Ostdeutschen in einer Diktatur für die Wahlerfolge der AfD verantwortlich sein. Mit dieser These werde die DDR zur "Endlagerstätte" für alles gemacht, was schieflaufe, sagt der Soziologe Steffen Mau.
Die Sozialisierung in einer Diktatur soll ursächlich dafür sein, dass ostdeutsche Bürgerinnen und Bürger in beträchtlichem Maß die AfD wählen. So sieht es zumindest der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU).

Die DDR als "Endlagerstätte"

"Das ist ein bisschen so, als wenn man die DDR zur Endlagerstätte für alles macht, was schiefläuft und problematisch ist", sagt der Soziologe Steffen Mau, der Wanderwitz' These kritisch sieht - und das nicht nur, weil das Ende der DDR immerhin schon 31 Jahre her ist und die Ostdeutschen nach 1990 einen "Turbowandel" vom Staatssozialismus zu Demokratie und Marktwirtschaft erlebten. Dieser fiel zeitlich auch noch mit einer Phase der verschärften Globalisierung zusammen. Insofern sei Ostdeutschland in gewisser Weise einfach eine "veränderungserschöpfte Gesellschaft", sagt Mau.
Gegen Wanderwitz' These spricht für den Berliner Soziologen außerdem, dass häufig gerade die Jüngeren in Ostdeutschland die AfD wählen. Zudem sei in Ostdeutschland nicht immer so stark rechts gewählt worden, die etablierten Parteien hätten vielmehr ihre Wähler an die AfD verloren: "Viele Leute haben ja vorher CDU oder auch Linkspartei gewählt und sind abgewandert. Das heißt, jetzt zu sagen, die Leute sind nie in der Demokratie angekommen, ist vielleicht auch nicht die ganz richtige Sichtweise. Sie sind zum Teil der Demokratie abhandengekommen."

Versagen der etablierten Parteien

Mau sieht hier ein Versagen der etablierten Parteien, die genauso wie die Zivilgesellschaft in den 1990er-Jahren zu wenig dafür getan hätten, die Menschen in den neuen Bundesländern mitzunehmen. Das Resultat sei eine sehr geringe Rekrutierungsfähigkeit der Parteien, was Mitgliedschaften als auch die Bereitschaft angehe, an Wahlen teilzunehmen.
"Es gibt eine enorme Diskrepanz zwischen einer kleinen Gruppe, die mitmacht, und einer großen Gruppe, die wahrscheinlich passiv zu Hause auf dem Sofa sitzt", so Mau. Diese Menschen in den politischen Prozess zu integrieren, sei aber "überlebenswichtig für die demokratische Entwicklung und die politische Kultur in Ostdeutschland", betont der Soziologe. Sein Vorschlag: in Ostdeutschland andere Formen der politischen Beteiligung ausprobieren, etwa Bürgerforen oder Runde Tische.

Ostdeutschland als Demokratielabor

"Ich glaube, Ostdeutschland könnte ein Labor sein, wo man Dinge einfach mal ausprobiert, weil sich dort Entwicklungen abzeichnen, die vielleicht woanders in Zukunft auch eintreten werden: Wie organisiert man eigentlich politische Mitbestimmung und politische Beteiligung unter den Bedingungen eines veränderten Parteiensystems?" Das sei "die große Frage", der sich letzten Endes alle Demokratien stellen müssten, betont Mau.
(uko)
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