DBC Pierre

    Von Tobias Wenzel · 30.08.2013
    Wieso besucht DBC Pierre einen Friedhof, auf dem Tote des Drogenkriegs liegen? Warum hat er mehr Freunde im Jenseits als im Diesseits? Und wie kommt es, dass Särge manchmal süß sind?
    Es ist früher Nachmittag in Monterrey im Norden Mexikos. Auf dem gepflegten Panteón Dolores lässt die unerbittliche Sonne die weißen Marmorgräber blendend hell erleuchten. Dirty But Clean Pierre, kurz DBC Pierre, schlank, rotbraune Haare, spaziert an einem begehbaren Grabmal vorbei:

    "Einige Grabhäuschen sehen wie Geschäfte aus. Sie haben automatische Türen mit getönten Scheiben und wahrscheinlich auch Klimaanlagen und Minibars."

    DBC Pierre lässt sich seinen Humor nicht nehmen. Nicht einmal hier, an diesem traurigen Ort. Auf dem Friedhof Dolores liegen nämlich zahlreiche Menschen begraben, die Opfer des Drogenkrieges wurden.

    "Das berührt mich in vielerlei Hinsicht: Ich habe selbst Drogen genommen, habe Drogendealer und -schmuggler gekannt. Ich habe eine Vergangenheit in Mexiko und auf Friedhöfen. Ich habe gesehen, wie Menschen erschossen wurden. Eigentlich ist Mexiko ein sehr friedliches Land. Die meisten Opfer dieses Krieges sind unschuldige Menschen. Zeit, um einmal darüber nachzudenken."

    DBC Pierre wurde 1961 als Peter Finlay in Australien geboren, wuchs aber mit seinen Eltern in Mexiko-Stadt auf, in einem Viertel der Superreichen. Damals ahnte niemand, dass er einmal auf die schiefe Bahn geraten und drogen- und spielsüchtig werden würde.

    Ob er ein paar Soldaten und Gewehre auf den Friedhof mitbringen solle, fragte mich DBC Pierre zwei Tage vor unserem Treffen. Denn er wolle dort möglichst spektakulär fotografiert werden. Wir kämen sicher ohne Soldaten und Gewehre aus, antwortete ich ihm. Nun auf dem Pantéon Dolores bleibe ich vor einem ausgehobenen Grab stehen. DBC Pierre ahnt, warum:

    "In einem leeren Grab?! Das bringt Unglück. Ein ausgehobenes Grab wartet ja auf irgendeinen Körper. Und ich möchte lieber nicht dieser Körper sein. Vielleicht auf halber Höhe. Aber nicht ganz unten drin."

    Schließlich steht DBC Pierre bis zu den Oberschenkeln im Grab. Ich fotografiere ihn.

    DBC Pierre auf dem Friedhof Panteón Dolores, Monterrey, Mexiko
    DBC Pierre auf dem Friedhof Panteón Dolores, Monterrey, Mexiko© Tobias Wenzel/ Knesebeck Verlag

    "In diesem Land sagt man der Graberde magische Kräfte nach. Wenn zum Beispiel jemand Erde aus einem Grab auf dein Dach wirft, kann dir das großes Unglück und sogar den Tod bringen. Ich glaube jetzt nicht wortwörtlich daran, aber wir sollten der Kultur doch etwas Respekt zollen. Ich muss also wirklich nicht am Grund eines ausgehobenen Grabes stehen. Aber ich stand ja nur auf halber Höhe, gewissermaßen mit einem Bein im Grab. Das beschreibt wahrscheinlich auch viel besser meine tatsächliche Lebenssituation."

    Sein Vater, ein Genetiker, starb, als DBC Pierre 19 war. Kurz darauf wurde der mexikanische Pesos dramatisch abgewertet. Der Sohn stand plötzlich vor dem Nichts. Der große Abstieg begann, DBC Pierre häufte Schulden an, beging Betrug und landete in einer Entzugsklinik. Erst durch das Schreiben konnte er sich aus seinem eigenen Elend befreien. Mehrmals sprang er dem Tod gerade noch von der Schippe. Der Tod ist mit seinem Leben immer eng verbunden gewesen. Vielleicht fühlt sich DBC Pierre auch deshalb den Mexikanern so nah und besucht das Land regelmäßig:

    "Hier haben die Menschen einen gesünderen Umgang mit dem Tod. Sie kommen auf den Friedhof, um hier ein Picknick zu machen. Manchmal wird Musik gespielt. Hier wird der Tod gefeiert. Besonders am Tag der Toten. Schon Wochen vorher sieht man in Schaufenstern Schädel und Skelette aus Zucker, Leichen und Särge aus Schokolade."

    Am Horizont verschwindet das Wahrzeichen der Stadt, ein Berg in Form eines Pferdesattels, hinter einer Wolke aus Sandstaub. DBC Pierre wird wieder nachdenklich:

    "Ich bin in einer sehr schnelllebigen, rücksichtslosen Clique groß geworden. Von diesen sieben engen Freunden lebt heute außer mir nur noch einer. Die meisten sind in ihren Zwanzigern gestorben. Der Grund war mexikanischer Natur: exzessive Freiheit und Macht, allgemeines Chaos, Autounfälle, Drogenabhängigkeit, Schusswechsel. Normalerweise sieht man seine Freunde erst sterben, wenn man 60 oder 70 ist. Ich habe das in meinen 50ern schon fast hinter mir. Insgesamt habe ich drei Dutzend Menschen, die mir nahe standen, beerdigt."

    Ich verstehe 3000 und frage verwirrt nach.

    "Nein, nicht 3000! Drei Dutzend! 3000 bekäme ich nur mit einem Maschinengewehr zusammen."

    Die Sonne geht hinter den Zacken eines Bergkammes unter.

    "Das Licht ist wunderschön. Die perfekte Zeit, um auf dem Friedhof zu sein. Genau zwischen Tag und Nacht."

    DBC Pierre lehnt sich an die Marmorwand eines überdimensionierten Grabmales und zündet sich eine Zigarette an:

    "Erwartet mich etwas nach meinem Tod? Wahrscheinlich eine Bar, in der man rauchen darf. Also keine in Europa. Wer weiß schon, was nach dem Tod ist. Aber wenn danach etwas kommen sollte, dann warten da schon viele Freunde auf mich."



    Am Tag vor unserem Treffen auf dem Friedhof hatte ich versucht, eine Schusswaffe aufzutreiben, um DBC Pierre das von ihm gewünschte Foto zu ermöglichen. Ich klapperte alle Spielzeuggeschäfte von Monterrey ab. Es war, als gäbe es in dieser von Gewalt beherrschten Stadt nur echte Waffen, aber keine Nachahmungen für Kinder, abgesehen von riesigen bunten Wasserpistolen. In einem Geschäft fand ich schließlich ein Telespiel, das über ein Kabel mit einer kleinen, schwarzen Pistole verbunden war. Ich kaufte es, schnitt das Kabel unterhalb des Griffes ab. Als ich die Spielzeugwaffe am nächsten Tag auf dem Friedhof aus meinem Rucksack zog und sie DBC Pierre zeigte, lachte er verächtlich:

    "Das ist ja eine Mädchenpistole! Mit so etwas möchte ich auf kein Foto! Ich hatte an etwas Größeres gedacht, an ein Maschinengewehr oder so."