David Pilling: "Der Wachstums-Wahn"

Fortschritt ohne Bruttoinlandsprodukt

09:38 Minuten
Dreidimensionale Karte mit Wachstumspfeilen und Dollarzeichen.
Chinas Wirtschaft wächst mit Nebenwirkungen. © imago/Ikon Images
David Pilling im Gespräch mit Andre Zantow · 04.12.2018
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Was sagt es aus, wenn das Bruttoinlandsprodukt steigt? Diese Frage stellte sich der britische Journalist David Pilling bei seinen vielen Reisen für die "Financial Times". Helfen diese Wachstumszahlen einem Land und den Menschen? Er fand Alternativen.
Andre Zantow: Mehr als 50 Länder habe David Pilling bereist, sagt der britische Journalist der Wirtschaftszeitung Financial Times. Für sie berichtete er jahrelang aus Chile, Argentinien, Japan und China über Wachstum und Gewinne. Anfang des Jahres veröffentlichte er nun sein Buch "The Growth Delusion" – "Der Wachstums-Wahn". Warum?
David Pilling: Ich arbeite für die Financial Times seit rund zwei Jahrzehnten. Und für diese Zeitung ist Wachstum extrem wichtig – also das Bruttoinlandsprodukt eines Landes. Aber was steckt wirklich in dieser Zahl? Das habe ich mich schon sehr früh gefragt. Und als ich aus Japan berichtet habe, ein Land, das seit 20 Jahren nicht mehr wächst, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, das viele Probleme dadurch hat, aber trotzdem sehr stark ist. Im sozialen Bereich, die Arbeitslosigkeit ist sehr gering, die Lebenserwartung sehr hoch – viel höher als in den USA – und die Menschen in Japan sind viel länger gesund. Die Kriminalität ist sehr gering und ich könnte die Liste weiterführen. Das war der Start zur Entdeckung, was das Bruttoinlandsprodukt eigentlich anzeigt und was nicht. Und wie wir das einschätzen sollten.
Andre Zantow: Und das Fazit ist, wir sollten den Fokus auf das Bruttoinlandsprodukt und das gewünschte jährliche Wachstum beenden?
David Pilling: Das Bruttoinlandsprodukt kann eine Hilfsgröße sein für ärmere Länder, die sich entwickeln, aber umso reicher ein Land wird, umso weniger nützlich ist diese Statistik. Sie sagt nur, wie stark die Wirtschaft eines Landes gewachsen ist. Sie sagt nichts über die Stärken der Unternehmen, die Ressourcen der Natur, das soziale Miteinander. Wenn ein Land z. B. viel Öl verkauft, steigt das Wachstum. Aber wenn es nicht in Bildung, Infrastruktur und eine Diversifizierung der Wirtschaft investiert, und die Ölquellen versiegen, war das Wachstum nichts wert. Wir brauchen also einen Wert für Nachhaltigkeit.
Und ein zweiter Faktor sollte die Verteilung der Einkommen sein – wenn reiche Länder immer weiter Wachsen und nur eine kleine Gruppe profitiert, werden viele wütend. Eine gute Einkommens-Verteilung ist deshalb notwendig.

"Ich bin kein Anti-Wachstums-Mensch"

Andre Zantow: Einkommensverteilung und Nachhaltigkeit sind für David Pilling also bessere Messgrößen als das Bruttoinlandsprodukt. Aber wenige Medien und Länder haben diesen Blick abseits des Glaubens an die Wachstums-Zahlen, oder?
David Pilling: Es gibt viele Beispiele: Um Plastik hat sich bis vor kurzem z. B. niemand gekümmert, jetzt landet es an unseren Stränden, es kommt in unseren Körper durch Plastik-Verpackungen und plötzlich tun die Regierungen in Europa und sogar in Großbritannien etwas. Die Plastik-Produktion wird gedrosselt, recyclebare Verpackungen werden gefordert, und dadurch sinkt das Bruttoinlandsprodukt. Wenn wir als Gesellschaft entschieden, dass die Nachteile von Plastik überwiegen, dann können wir Grenzen setzen. Genauso beim Kohlendioxid: Wenn jemand etwas produziert und dabei entsteht CO2, muss er für die Nebeneffekte – also die globale Erwärmung – zahlen. Deshalb sollten wir CO2-Emissionen besteuern, damit jeder auch bezahlt, für den nicht sichtbaren Schaden, den er anrichtet.
Ein Kohlekraftwerk in der Nähe das Capitols in Washington.
Ein Kohlekraftwerk in der Nähe das Capitols in Washington.© dpa / picture-alliance / Matthew Cavanaugh
Andre Zantow: Aber macht das derzeit eine Regierung? Wo sehen Sie entsprechende Entwicklungen?
David Pilling: Ja, das wird attraktiver. Ich sehe das hier in Korea, wo ich jetzt bin auf einer großen OECD-Konferenz über das Wohl der Menschen abseits vom Bruttoinlandsprodukt. In Korea hat der Finanzminister vorher gesagt, die wichtigsten Zahlen, die Schlagzeilen machen, sind nicht die Steigerungen des Bruttoinlandsproduktes, die sind in Korea immer richtig gut ist, sondern wichtig sind: Arbeitslosigkeit und die Verteilung der Einkommen. Wachstum allein ist nicht relevant, das sehen wir auch in China. Seit 30 Jahre starkes Wachstum, aber große Nebeneffekte: Schlimme Luftverschmutzung, Wasser-Verschmutzung, vergiftete Dörfer und jetzt steuert auch Chinas Regierung um und spricht von nachhaltigem Wachstum, von den Folgen für die Umwelt.
Ein drittes Beispiel sind Neuseeland und Schottland – die jetzt ihre Haushalte ändern nach den Kriterien für das Wohlergehen der Menschen - das "Well-Being". Ähnlich auch in Ghana – wo die Regierung umsteuert für nachhaltige Wachstumsziele, die viel breiter aufgestellt sind, um die Gesellschaft voran zu bringen.
Andre Zantow: Wenn Sie sich jetzt soviele Gedanken machen und nicht mehr über die nackten Wachstumszahlen schreiben, ist das ein Problem für die wirtschaftsliberale Zeitung Financial Times?
David Pilling: Nein, ich bin ja nicht unwillig über Wachstum zu schreiben. Außerdem ist die Financial Times eine sehr aufgeschlossene Zeitung, die intellektuelle Freiheit zulässt. Und man findet alle möglichen Meinungen darin, deshalb bin ich geblieben. Und ich schreibe ja über Wachstum, das ist für ärmere Länder wie Sierra Leone, Nigeria oder Äthiopien wichtig, da kann es das Leben der Menschen verändern. Die Einkommen steigen, mehr Geld kann für Bildung ausgegeben werden, für Infrastruktur. Ich bin also kein Anti-Wachstums-Mensch, ich frage nur nach der Art des Wachstums. Gewöhnlich heißt Wachstum mehr Dinge: Mehr Möbel, mehr Fernseher, aber es kann auch Qualität bedeuten. Früher hieß Wachstum in der Musik-Branche mehr CDs verkaufen – mit dem ganzen Plastik-Müll, jetzt sind es mehr Downloads.
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