Das zersplitterte Leben

Von Martina Seeber · 23.10.2012
György Kurtágs Musik ist voller Augenblicke, in denen durch die Korridore der Zeit längst Vergangenes herüberklingt. Wie in einem gigantischen Archiv sind in seinen Werken die Erinnerungen an eigene, aber in Gestalt von "objets volés" auch an fremde Kompositionen miteinander verknüpft.
Die Kürze der 6 Moments musicaux sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Mikrokosmos eine Fülle klingender Tagebuchnotizen, versteckter musikalischer Botschaften, Eigenzitate und Hommages an Freunde und Vorbilder in sich birgt. Gleich der Titel schlägt die Brücke zurück zu Franz Schuberts, ebenfalls sechssätzigem, Klavierzyklus Moments Musicaux von 1828.

Mit Schuberts Miniaturen verbindet Kurtágs Quartettfolge allerdings weit mehr als das Bekenntnis zur aphoristischen Konzentration in der Momentform. Hier wie dort stehen die rascheren Sätze an dritter und fünfter Stelle. Gemeinsam ist den Schwesterwerken auch die Hommage an Johann Sebastian Bach im jeweils vierten Satz. Zugleich erinnert György Kurtág mit der Tonfolge BACH aber auch an den Widmungsträger dieses Satzes, den verstorbenen Pianistenfreund György Sebök und ihre gemeinsame Bach-Bewunderung.

Der Schlusssatz im Stil Leoš Janáceks verweist auf Ludwig van Beethovens programmatische Abschiedssonate Les Adieux. Darin wiederum hallt in einem markanten Violin-Motiv das Stierhorn aus Wagners Meistersingern nach. Darüber hinaus reichen in den 6 Moments musicaux aber auch die Reminiszenzen an eigene Kompositionen ungewöhnlich weit zurück.

Der zweite Satz, Footfalls, mit seinem stockenden Herzschlag ist die Bearbeitung eines Satzes aus Kurtágs Suite für Klavier von 1943, "meine erste Komposition, zu der ich immer mehr stehen kann", er erinnert aber auch an die Todesthematik des Schwestersatzes bei Schubert.

Und die Vogellaute im Rappel des oiseaux, dem fünften, durchweg im Flageolett gespielten Moment musical, erinnern an das Vogel-Scherzo in Kurtágs 46 Jahre zuvor in Paris entstandenem ersten Streichquartett, in dem er den Gesang der Amseln und das Tschilpen zankender Spatzen in einem nahegelegenen Park verewigte.

Es sieht aus, als gäbe es in Kurtágs Kosmos kein Vorher und Nachher, nur lose Enden, die darauf warten, verbunden zu werden. Das alles geschieht aber keineswegs nur assoziativ, sondern verrät ein intensives, rastloses Nachdenken über Musik. Keines der ineinander verschachtelten Erinnerungsfragmente, aus denen sich die einzelnen Moments musicaux zusammensetzen, steht hier zufällig an seinem Platz.

Ob die Hörer diese kompositorischen Wege auf jeder Ebene nachvollziehen müssen, sei dahingestellt. Man braucht nicht unbedingt an Schubert, Beethoven, Bach und Sebök, und nicht einmal an den jungen Kurtág zu denken, der sich hier selbst zitiert, um die 6 Moments musicaux angemessen zu rezipieren – dafür reicht die Hörzeit ohnehin nicht annährend aus.

Und schließlich hat Kurtág all diesen komplexen Netzen von Verweisen und Beziehungen jeweils Gestalten verliehen, die ein eigenes Leben führen: den Hoquetus-Gesang im ersten Moment, das pochende Herz und die sich nähernden Schritte im erwartungsvollen zweiten Satz, den launigen Katzentanz im dritten, die Unterhaltung der Vögel im fünften und den himmlisch-ätherischen Abgesang am Schluss. Zugleich aber ist in jedem der musikalischen Augenblicke zu spüren, dass jedes noch so kleine Bruchstück den Reichtum eines intensiven Lebens und Nachdenkens in sich birgt.
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