"Das Zentrum von Demokratie ist der Schutz der Minderheiten"

Martin Schindehütte im Gespräch mit Philipp Gessler · 24.08.2013
Wie viele Kopten in den Unruhen in Ägypten ihr Leben lassen mussten, könne er nicht beziffern, sagt Martin Schindehütte. Inzwischen seien in dem Land allerdings mehr als 60 christliche Einrichtungen und Kirchen zerstört worden, so der Auslandsbischof der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Philipp Gessler: Der Auslandsbischof der Evangelischen Kirche in Deutschland, Martin Schindehütte, hat vor wenigen Wochen mit dem Bamberger Erzbischof Ludwig Schick den ersten "Ökumenischen Bericht zur Religionsfreiheit von Christen weltweit" herausgegeben. Schon damals haben sie die Lage der Christen in Ägypten als sehr schwierig geschildert. Vor der Sendung habe ich mit Bischof Martin Schindehütte gesprochen. Ich wollte von ihm wissen: Von wie vielen Toten unter den Kopten infolge der Unruhen gehe er aus?

Martin Schindehütte: Darüber habe ich tatsächlich keine verlässliche Zahl. Ich kann Ihnen das nicht genau beantworten. Ich kann nur sagen, dass mehr als 60 Einrichtungen und Kirchen von Christen, Kopten und von den evangelischen Christen in Ägypten zerstört worden sind. Ich weiß von Verletzungen. Aber eine Zahl kann ich Ihnen nicht nennen. Vielleicht ist es auch gar nicht so entscheidend. Denn man muss ja sehen, dass auch sehr, sehr viele ägyptische Menschen, die in muslimischer Tradition stehen und die mit den Muslimbrüdern so nichts zu tun haben wollen, die den Islam ganz anders verstehen, eben auch umgekommen sind, und das sind ja sehr, sehr erschreckende und sehr, sehr hohe Zahlen.

Gessler: Wie erklären Sie sich denn die Hatz, die zurzeit ganz offensichtlich auf die Kopten in Ägypten gemacht wird?

Schindehütte: Also es ist übrigens nicht nur eine Hatz auf die Kopten, es ist auch noch die kleine koptisch-evangelische Kirche, die das erlebt, eben nicht nur die Kopten. Es ist offenkundig so, dass die Christen, und zwar sowohl die Kopten wie die evangelischen, dem Handeln des Militärs und der Absetzung Mursis öffentlich zugestimmt haben. Man konnte ja sehen, dass Tawadros, der Papst der koptisch-orthodoxen Kirche, bei dieser Erklärung sichtbar im Fernsehen dabei war. Das bedeutet, dass diejenigen, die Muslimbrüder, und die, die mit ihnen paktieren, in den Christen natürlich ganz scharfe Gegner sehen. Und ich glaube, das ist einer der Gründe dafür, warum sich das in starkem Maße eben auch gegen Christen richtet. Aber ich werde nicht müde, zu sagen: Es sind auch viele Muslime, die Opfer geworden sind. Muslime, die Opfer geworden sind der Muslimbrüder, weil die Muslime – jedenfalls nicht die Muslimbrüder, sondern die anderen, ich sage mal, die aufgeklärten Muslime – ja Seite an Seite mit Christen für Demokratie und Zivilgesellschaft agieren.

Gessler: Nun scheint generell der Arabische Frühling den Kopten ja nichts gebracht zu haben – oder täuscht das?

Schindehütte: Das muss man vielleicht unter dem Widerspruch sehen: Zunächst erst einmal zeigt der Arabische Frühling den koptischen Christen und den orthodoxen Christen, übrigens im ganzen Nahen und Mittleren Osten, dass die Zeiten, wo sie unter einem bestimmten Herrscher unter Schutz standen, vorbei sind. Sie müssen eine neue Rolle finden, sie müssen sehen, wie sie in einer hoffentlich, hoffentlich entstehenden Zivilgesellschaft jenseits dieses Schutzes eigenständig sich einbringen können in die Gesellschaft. Das ist für die Orthodoxie eine große Aufgabe, und darin steckt zumindest ein großes Potenzial.

Gessler: Der weggeputschte Übergangspräsident Mohammed Mursi gehörte ja der Muslimbruderschaft an. Theoretisch hätte man sich ja vorstellen können, dass eine religiös fundierte Partei wie die Muslimbruderschaft für andere Religionen, auch für die Christen, Sympathien hat. Oder ist das naiv gedacht?

Schindehütte: Das ist in diesem Fall wirklich naiv gedacht. Denn man muss sehr nüchtern sehen, dass Mursi, nachdem er Präsident geworden ist, sehr offenkundig Schritte gegangen ist, die nicht darauf angelegt sind, eine Gesellschaft aufzubauen, in der unterschiedliche Religionen, unterschiedliche Weltanschauungen oder gar Menschen, die keinem Glauben angehören, gleichberechtigt einen Platz haben. Er hat relativ schnell die Verfassung außer Kraft gesetzt, er hat relativ schnell die Gewaltenteilung aufgehoben, und er hat ganz offenkundig ein Ziel verfolgt: Einen islamischen oder besser gesagt einen islamistischen Staat zu errichten, in dem die Minderheiten nicht mehr vorkommen. Und das Zentrum von Demokratie ist der Schutz der Minderheiten, die Chance, dass die, die bei der Wahl unterlegen sind, die nächste Wahl gewinnen können. Und dem hat er sich massiv widersetzt. Und das ist für mich auch ein wichtiger Grund, warum das Militär ihn abgesetzt hat.

Gessler: Das hört sich ja beinah so an, als würden Sie sagen: Der Putsch war gerechtfertigt.

"Absetzung Mursis war die letzte Chance"
Schindehütte: Was heißt, der Putsch war gerechtfertigt? Man muss nach den Mitteln fragen und nach der Verhältnismäßigkeit fragen. Ich kann nur sagen, dass die Christen in Ägypten es so sehen, dass sie sagen, sowohl die evangelischen wie die Kopten wie der Christenrat, der sich jetzt mehrfach geäußert hat, die haben gesagt: Dieses militärische Eingreifen der Absetzung Mursis war die letzte Chance, eine Option auf eine Zivilgesellschaft und Demokratie aufrechtzuerhalten. Sonst wäre ein islamistischer Staat gekommen, in dem für andere kein Raum ist. Das klingt anders. Und dann muss man danach fragen, ob das, was dann militärisch geschehen ist, verhältnismäßig ist. Da habe ich meine Anfragen dran. Aber im Kern kann ich nicht einfach nur vom Militärputsch reden, sondern auch ein Element steckt da drin, dass das Militär eine Chance, eine Option für die Demokratie offenhalten wollte.

Gessler: Das heißt, Sie sind tatsächlich von einer gewissen Hoffnung beseelt, dass das Militär doch den Weg noch finden könnte zur Demokratie?

Schindehütte: Das ist eine skeptische Hoffnung, aber ich höre zunächst erst mal von den Menschen vor Ort, den Christen, aber auch von Muslimen, dass sie darauf setzen und dass sie daran glauben. Und deswegen sage ich nicht: Es gibt einen Automatismus in einer Militärdiktatur, die sozusagen sich dann einen demokratischen Anstrich gibt. Sondern ich habe eine sehr skeptische, sehr kritische Hoffnung, dass das Versprechen, dass es eine neue Verfassung und Neuwahlen gibt, eingehalten wird. Und da kann nun die internationale Politik, da kann auch die Europäische Union, da kann die Weltgemeinschaft kräftig dran mitwirken, dass dieses Versprechen eingehalten wird.

Gessler: Was kann oder was muss man denn von hier, also von Europa aus gegen die Christenverfolgung in Ägypten tun?

Schindehütte: Also das Wesentliche und Wichtigste ist, dass viel erkennbarer wird, dass die Politik in Europa, aber auch die Politik Amerikas, von den Menschenrechten geleitet ist. Ich habe manchmal Zweifel daran, ob wirklich, wie es wieder gesagt wird, Frau Ashton hat das auch noch mal gesagt: Es geht ihr darum, die europäischen Werte zu verteidigen. Dann frage ich mich, wieso man so lange diese offenkundigen Maßnahmen von Mursi, der Aufhebung der Verfassung, der Aufhebung der Gewaltenteilung, zugelassen hat. Wenn man menschenrechtsorientiert gehandelt hätte, dann hätte man Sicherheitsfragen, militärische Fragen zumindest in einen Bezug gesetzt zu Menschenrechten und hätte das offener gefordert. Und das ist der entscheidende Punkt: Eine Wahrung der Menschenrechte mit aller Konsequenz von Regierungen einfordern ist die beste Perspektive für Glaubensgemeinschaften, frei leben zu können, und damit auch die beste Perspektive, Christenverfolgungen sozusagen einzudämmen, auszutrocknen, zum Ende zu bringen.

Gessler: Die EU-Außenkommissarin Frau Ashton hat das jetzt gemacht, aber offenbar hat das ja nicht besonders viel gebracht.

Schindehütte: Das eine ist das, was man sagt, das andere ist das, was man tut. Sie merken, ich habe eine gewisse Skepsis, die ich zu Beginn dieses Konfliktes gegenüber der europäischen Politik nicht hatte. Ich habe meinen Brüdern und Schwestern in Ägypten zugehört und ich kenne viele davon persönlich und ich kenne viele, die ich für sehr glaubwürdig halte und sehr ehrlich und für demokratisch gesinnt. Und wenn die mir sagen – wie der Generalsekretär Andrea Zaki von den Koptisch-Evangelischen und deren soziale Organisation –, dass sie skeptisch sind. Und dass sie von der Politik Europas enttäuscht sind, weil sie eben diesen menschenrechtlichen Aspekt nicht hinreichend sehen. Dann kann ich das nicht einfach ignorieren. Sondern dann komme ich ins Grübeln und frage mich, ob wir nicht an dieser Stelle konsequenter menschenrechtlich handeln müssen als Politik, als das erkennbar ist. Das eine sind die Worte, das andere sind die konkreten Taten.

Gessler: Reicht es denn, wenn die Kirchen gegen die Gewaltwelle gegen Christen protestieren und allgemein zur Gewaltlosigkeit aufrufen?

"Einen Weg befördern, der zu Demokratie und Zivilgesellschaft führt"
Schindehütte: Ob es reicht, weiß ich nicht. Klar ist erst mal, dass wir es tun müssen und dass wir es, glaube ich, jetzt mit großer Konsequenz und Klarheit tun. Das ist unsere Reichweite, das ist die Kraft des Wortes. Ich hoffe, dass wir damit diejenigen, die noch andere Möglichkeiten, politische Möglichkeiten haben, überzeugen, in derselben Richtung zu agieren. Und damit sozusagen einen Weg befördern, der zu Demokratie und Zivilgesellschaft führt.

Gessler: Manche christliche Vereinigungen oder Institute sagen ja, die Christen seien derzeit weltweit gesehen die größte verfolgte Gruppe von Gläubigen. Stimmt das denn?

Schindehütte: Also das stimmt nur sehr bedingt. Wenn man die absolute Zahl sieht, dann kann man sagen, ja, an absoluter Zahl sind die meisten Menschen, die religiös verfolgt werden, Christen. Das hat aber damit zu tun, dass die Christen auch die weitaus größte Religionsgemeinschaft, Weltreligion weltweit sind. Wenn man das ins Verhältnis setzt, dann stellt man fest, dass es Verfolgung gegenüber Religionsgemeinschaften in allen anderen Religionsgemeinschaften und Weltreligionen auch gibt. Das gilt für Muslime, das gilt für Juden, das gilt für Buddhisten. Überall kann man das sehen, sodass man sagen muss: Hinter dieser Diskriminierung von Religionsgemeinschaften steht noch was anderes als nur ein spezieller Blick auf das Christentum. Dahinter stehen kulturelle, soziale Verwerfungen, tiefgreifende Veränderungen, die Menschen verunsichern. Und deswegen zeigt sich, wie gesagt, dass dieses Phänomen sich gegen alle Religionen richtet und nicht etwa nur gegen die Christen. Mir ist das wichtig. Die Opfer, die von religiöser Verfolgung, die innerhalb des Islam zu beklagen sind, sind unglaublich groß. Diese Auseinandersetzung ist sozusagen weitaus ernsthafter und weitaus mit größeren Opfern behaftet als das, was Christen geschieht. Und nicht selten geraten Christen eigentlich nur zwischen die Fronten dieser inner-islamischen Auseinandersetzung, die ein so ungeheures Gewaltpotenzial hat, siehe Syrien.

Gessler: Im ganzen Nahen Osten, auch in Syrien, scheint die Gruppe der Christen aufgrund der Unruhen dort immer kleiner zu werden. Wird das Christentum aus seiner Heimatregion vertrieben?

Schindehütte: Das muss man befürchten. Also wenn man sich die Geschichte und die Entwicklung anguckt, dann muss man feststellen, dass sozusagen in den biblischen Ursprungsländern die Christen in den letzten Jahrzehnten gigantisch an Zahl verloren haben. Ich habe immer wieder die Zahl im Kopf aus der Türkei, ein ganz anderes Land, wo vor 100 Jahren noch knapp ein Viertel der Bevölkerung Christen waren. Jetzt sind es kaum mehr ein Prozent – also ein langfristiger Prozess. Und wenn Sie nach Palästina gucken und die kleine palästinensische Kirche, dann wird die auch immer kleiner. Die meisten werden nicht direkt vertrieben, die meisten werden wegen der Diskriminierung ... sehen keine Perspektive mehr in ihrem Land. Gerade junge Leute sagen: Was soll ich hier? Hier kann ich mich beruflich nicht wirklich etablieren. Hier habe ich nicht die Chancen, die andere Religionsgemeinschaften haben, und mein Großvater und meine Tante leben sowieso schon in den USA – und dann gehen sie da hin.

Also diese Perspektivlosigkeit im eigenen Land führt dazu, dass sie das Land verlassen, und das ist wirklich ein großer, großer Verlust für die Christen, die dann immer kleinere Zahlen werden. Und dann tritt in der Tat diese Gewalt und die Form von Bedrängnis und Verfolgung hinzu. In Ägypten sagen mir die Partner, die ich kenne: Wir gehen doch jetzt nicht, ganz gewiss nicht! Wir sind Ägypter und wir kämpfen für die Freiheit dieses Volkes, wir kämpfen für unsere Zukunft in unserem eigenen Land. Wir wollen nicht gehen.

Gessler: Sind denn Christen bei solchen bürgerkriegsähnlichen Unruhen die idealen Opfer, etwas zynisch gesagt, da sie für die Gewaltlosigkeit doch generell eintreten?

"Ich glaube, dass die Gewaltlosigkeit eine Option ist"
Schindehütte: Ja, das ist eine spannende Frage – die idealen Opfer? Ich fürchte, dass, wenn die Christen zur Gewalt greifen würden, in viel stärkerem Maße zur Gewalt greifen würden, die Opfer noch größer wären. Also es wäre ja ein Gedankenspiel. Greifen sie zu den Waffen und wehren sich, dann wird der Blutzoll auf beiden Seiten und aufseiten der Christen wahrscheinlich noch höher. Also da muss man vorsichtig sein. Ich glaube, dass die Gewaltlosigkeit eine Option ist, die zur Deeskalation beiträgt und die die Chance eröffnet, in einen friedlichen und versöhnlichen Prozess zu kommen.

Gessler: Helfen denn Gebete für die verfolgten Christen in Ägypten?

Schindehütte: Ganz gewiss, ganz gewiss, sie helfen vor allem und zuerst den Christen dort vor Ort, und ich weiß, wie wichtig das ist, dass es diese Gebete gibt. Sie sind ein Zeichen der Solidarität und sie geben der Hoffnung Ausdruck, dass wider allen Anschein Frieden und Versöhnung Perspektiven sind, bei denen wir auf Gottes Beistand und sein Geleit hoffen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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