"Das Wort Verpflichtung ist vielleicht fast zu klein"

Eugen Ruge im Gespräch mit Susanne Führer · 30.01.2012
Wolfgang Ruge verließ im Alter von 16 Jahren das nationalsozialisitische Deutschland in Richtung Sowjetunion. In "Gelobtes Land" erinnert er sich an seine Zeit in Moskau und in sibirischen Lagern. Sein Sohn Eugen hat das Werk nun neu herausgegeben – und sagt: In der Sowjetunion habe es damals eine noch gößere Brutalität als in anderen Ländern gegeben.
Susanne Führer: Im vergangenen Herbst hat Eugen Ruge für seinen Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" den Deutschen Buchpreis erhalten. In diesem Buch schildert er das Schicksal von vier Generationen einer kommunistischen Familie der ersten Stunde. Eine der Romanfiguren tritt uns nun ganz real entgegen: Wolfgang Ruge, der inzwischen verstorbene Vater des Schriftstellers hat über seine Zeit in der Sowjetunion einen autobiografischen Bericht geschrieben: "Gelobtes Land". Eugen Ruge gibt das Buch heraus.

Es setzt mit der Immigration des erst 16-jährigen Wolfgang Ruge ein, im Jahr 1933 fährt er von Berlin nach Moskau, in das vermeintlich gelobte Land der Werktätigen. Die Realität aber sieht anders aus: Dreck, Armut, die Lebensmittel sind rationiert. Doch er schreibt von der inneren Verpflichtung, begeistert zu sein. Ich habe mit Eugen Ruge vor der Sendung gesprochen und ihn gefragt, wie es möglich war, dass der junge Wolfgang dem Kommunismus treu blieb, obwohl die Wirklichkeit ja so überhaupt nicht den Verheißungen entsprach?

Eugen Ruge: Ja, offenbar wird man so innere Verpflichtungen nicht so schnell los. Es ist vielleicht, das Wort Verpflichtung ist vielleicht fast zu klein, es ist eben Erziehung, eine ganze Kultur, die er sozusagen im Innern mitnimmt, verbunden mit Hoffnung, verbunden mit etwas, was man beinahe Glauben nennen kann. Und das ist offenbar sehr schwer loszuwerden.

Führer: Also, er ist, das sollten wir nachschieben, von klein auf kommunistisch erzogen ...

Ruge: ... er ist von klein auf kommunistisch erzogen worden, ja ...

Führer: ... war in Kinderjugendgruppen ...

Ruge: ... ja, ja ...

Führer: So, nun ist er also in Moskau ziemlich alleine und dann beginnen die politischen Säuberungen, die Angst geht um, das beschreibt er auch sehr eindrücklich in dem Buch, wie immer mehr Menschen, die er kennt, von denen er gehört hat, plötzlich verschwinden, sich plötzlich selbst als Verräter denunzieren müssen. Und dann wird er selbst 1941 deportiert, obwohl er ja sowjetischer Staatsbürger ist. Warum eigentlich?

Ruge: Er wird deportiert, weil er deutschstämmig ist. In seinem Pass steht ja nach wie vor Nationalität deutsch, obwohl er inzwischen die sowjetische Staatsbürgerschaft angenommen hat. Und in dem Augenblick, wo Nazi-Deutschland die Sowjetunion überfällt, werden also Personen, die deutsch oder deutschstämmig sind, eben verdächtig. Diese Erscheinung, die gibt es auch in anderen Ländern, also auch in England, auch in Frankreich. Natürlich findet das alles in der Sowjetunion mit noch größerer Brutalität statt als in anderen Ländern.

Führer: Ja, er wird erst nach Karaganda (*) deportiert ...

Ruge: ... Karaganda(*), ja ...

Führer: ... dann ins Nordurallager und es folgen also bitterer Hunger, schwerstes Elend, Zwangsarbeit, harte Arbeit ...

Ruge: Also, zunächst ist es eine Deportation in die Steppe. Der nächste Schritt ist dann eigentlich eine Internierung, das ist noch mal ein Unterschied. Also, zunächst wird er deportiert, lebt da in einem Dorf in der Steppe zusammen mit ehemaligen sogenannten Kulaken und wird dann noch mal von seiner Ehefrau getrennt.

Dorthin gehen sie zusammen, aber dann wird er noch mal von seiner Ehefrau getrennt und wird einberufen in die sogenannte Arbeitsarmee, was aber praktisch bedeutet, dass er in ein Lager, ins Gulag-System interniert wird regelrecht. Auch zu den Bedingungen, die eben dort herrschen.

Führer: Was ja auffällt, finde ich, in diesen Passagen, ist, dass er auf der einen Seite ziemlich sachlich die Lebensbedingungen, die erbärmlichen Lebensbedingungen beschreibt, wie wichtig es ist – also, er wird zum Holzfällen eingesetzt –, dass man die Norm erfüllt, weil er nur dann die volle Ration Brot bekommt, wenn man die Norm nicht erfüllt, bekommt man weniger Brot, was ja ein perfides System ist, denn je schwächer man ist, desto ...

Ruge: ... desto weniger kann man die Norm erfüllen und desto weniger Brot kriegt man wiederum. Also, das, dann befindet man sich sozusagen auf dem absteigenden Ast, dann ist der, eigentlich der Hungertod nicht mehr fern, also das ist tatsächlich so ... Erpressung durch Hunger.

Führer: Und diese Szenen wechseln dann mit teilweise geradezu lyrischen Naturbeschreibungen.

Ruge: Ja. Also, gut, nicht zu allen Zeiten. In den Zeiten des schlimmsten Hungers, da vergeht ihm offensichtlich alles. Da kann er ja, wie er selbst beschreibt, kaum noch denken, er denkt von sich selbst dann, er fängt an, von sich selbst in der dritten Person zu denken, hat dort also Zustände, von denen er selbst auch sagt, das kann er eigentlich gar nicht wirklich beschreiben, was da mit ihm passiert ist.

Führer: Sein Schicksal wird ja erst mal dann nach dem Krieg etwas leichter. Er kommt nach Sosswa, arbeitet dort im Projektierungsbüro, hat irgendwann sogar ein eigenes Zimmer, aber es folgt dann die Verbannung auf ewige Zeiten. Was ja ein unglaublicher Schlag ist, weil alle gedacht haben, nach dem Krieg können sie wieder zurück.

Ruge: Ja, also, das ist natürlich ... Man weiß gar nicht, was man schlimmer finden soll. Natürlich ist das Lager außerordentlich, war eine außerordentlich schwere Zeit, und das haben viele nicht überlebt, aber dieser Schlag, dass man nun nach dem, nachdem der Krieg beendet ist, nachdem also der Grund für diese Verbannung und die Deportation und die Einberufung in die Arbeitsarmee eigentlich sich erledigt hat, dass dann nicht etwa der Weg zurück ins normale Leben erfolgt, sondern dass dann gesagt wird, ja nun, jetzt ist es eben so, jetzt sind Sie hier und jetzt sind Sie zwar nicht mehr interniert, dürfen jetzt hier im Ort sich also ein Zimmer suchen, aber Sie sind jetzt auf ewig verbannt, das heißt, Sie bleiben im Umkreis von, ich weiß nicht, sieben Kilometern oder so was, bleiben Sie hier an diesem Ort. Und er ist dann elf Jahre, er hat dann noch elf Jahre seines Lebens eben verloren dadurch, er ist elf Jahre seines Lebens dort noch als Verbannter in diesem Ort in Westsibirien geblieben ...

Führer: ... bis 1956 ...

Ruge: ... bis 1956, ja.

Führer: Und erstaunlicherweise erregt er sich ja gar nicht so sehr über den unglaublichen Verrat an den Idealen des Sozialismus, sondern vor allem über die, wie er schreibt, verbrecherische Nationalitätenpolitik der UdSSR. Also, er spricht ja im Zusammenhang mit der Politik gegenüber den Deutschstämmigen zum Beispiel sogar von einem Genozid.

Ruge: Ich würde schon sagen, er schreibt jetzt besonders über die verbrecherische Nationalitätenpolitik, weil es einfach das Thema seines Buches ist. Dass der Stalinismus ein Verbrechen war und dass er die Ideale des Sozialismus also verraten hat, das ist, glaube ich, sozusagen so selbstverständlich, das ist natürlich klar. Das ist für ihn auch klar, das war immer klar.

Führer: Deutschlandradio Kultur, der Schriftsteller Eugen Ruge ist zu Gast. Wir sprechen über das Buch "Gelobtes Land" seines Vaters Wolfgang Ruge. Er ging 1956 mit Frau und Kind – das waren Sie, Sie sind 1954 noch in Westsibirien geboren worden, Herr Ruge –, er ging in die DDR mit seiner Familie. Das wundert nachträglich sicher viele. Auch wenn es viele getan haben.

Ruge: Ja, das ... Er ging in die DDR, weil er eben annahm, das nun die Zeit für den wahren – nach Stalins Tod –, die Zeit für den wahren Sozialismus gekommen sei.

Führer: Und wie lange hielt dieser Glaube?

Ruge: Ja, der hielt nicht so besonders lange. Also, ich glaube, spätestens, allerspätestens mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei ...

Führer: ... 1968 ...

Ruge: ... 1968, spätestens zu dem Zeitpunkt war das beendet, aber wahrscheinlich auch schon früher. Wahrscheinlich fingen die Zweifel und die Enttäuschung, setzte wahrscheinlich auch schon früher ein. Also, elftes Plenum 1965, 66, nachdem alle erwartet hatten, der Mauerbau, der natürlich abgelehnt wurde auch von meinem Vater, aber der würde wenigstens dazu führen, dass sozusagen nun, abgeschirmt vom Kapitalismus, nun wenigstens innerhalb der DDR eine relative Demokratisierung möglich sein würde. Dieser Glaube erwies sich natürlich als falsch, ganz klar.

Dann wurde Chruschtschow, der Reformmann der Sowjetunion, wurde ja 1964 entmachtet ... Und so kam Stück und Stück also doch eine Enttäuschung und Desillusionierung so in Gang, die später wirklich zur Resignation und zur Verzweiflung führte.

Führer: Trotzdem hat er es ja geschafft, wenn man so will, auch in der DDR eine Karriere zu machen als Historiker, war ein angesehener Historiker, er hat enorm viel publiziert. Und Sie schreiben in Ihrem Nachwort, dass er zu den wenigen gehört hat ... Also, er hat seine Erlebnisse in der Sowjetunion nicht verschwiegen, er hat davon erzählt. Da habe ich mich gefragt, wie waren denn da eigentlich die Reaktionen? Oder hat er das nur im ganz kleinen Familienkreis getan?

Ruge: Na ja, er hätte es nicht öffentlich getan, das war unmöglich, also, dafür gab es einfach kein Forum. Und er hätte das auch nicht veröffentlichen können, das hätte einfach niemand veröffentlicht, basta. Es sei denn, er hätte das also in den Westen geschmuggelt, hätte es dort ...

Führer: ... nein, ich meine, wenn da jetzt, du sitzt da so, Sie sitzen da abends bei Cognac und Zigarre und ...

Ruge: ... nein, da hatte er keine Hemmungen, darüber zu reden mit Leuten, die ihn danach fragten. Es fragte ja nicht jeder, und er drängte sich also nicht auf mit den Geschichten, so war das ja also auch nicht, aber wer ihn fragte, bekam Auskunft, das war gar keine Frage.

Führer: 1981 hat er begonnen mit der Niederschrift seiner Erinnerungen, dann gab es eine Pause, lange Jahre. 1998 hat er dann fortgesetzt. Da drängen sich natürlich zwei Fragen auf: Also, warum so spät überhaupt, also auch 1981, beziehungsweise warum überhaupt?

Ruge: Warum so spät, ja, also ... Offensichtlich hat ihn das viel stärker gequält, als man annahm. Von der Leichtigkeit der Erzählung, von der anekdotenhaften Weise, wie er darüber berichtete her, war also nicht klar, mir jedenfalls nicht, was für ein Trauma er da erlebt hatte. Und er quälte sich damit offensichtlich sehr lange.

Führer: 2003 sind seine Erinnerungen schon einmal erschienen, allerdings in einer nicht weiter edierten Form. Sie, Herr Ruge, haben jetzt noch mal diesen Text verlegt, also überarbeitet, sorgfältig ediert, es sind Anmerkungen und Erläuterungen also für die zahllosen Abkürzungen der verschiedensten sowjetischen Organisationen drin. Warum haben Sie das gemacht?

Ruge: Ich bin, ich gehöre, muss ich vielleicht auch wirklich sagen, ich gehöre schon zu den Leuten, die also finden, dass man über soziale Utopien weiter nachdenken kann und muss. Ich finde aber auch, dass man, bevor man Worte wie Systemwechsel in den Mund nimmt, sich wirklich umdrehen sollte und gründlich in die Geschichte, in die eigene Geschichte zurückblicken sollte und sich anschauen sollte, was mit so einem Systemwechsel verbunden sein kann. Denn das, was mein Vater hier in dem Buch beschreibt, ist eben der Augenzeugenbericht über eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte.

Führer: Sagt Eugen Ruge, Autor des Romans "In Zeiten des abnehmenden Lichts", und ich sprach mit ihm über das Buch seines Vaters, Wolfgang Ruge, "Gelobtes Land" heißt das, beide sind im Rowohlt-Verlag erschienen.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

(*)Redaktioneller Hinweis: Die Schriftfassung weicht an dieser Stelle von der Audiofassung ab.
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