"Das wird provozieren"

Andres Veiel im Gespräch mit Dieter Kassel · 07.03.2011
Mit seinem Wettbewerbsfilm "Wer wenn nicht wir" provoziert Regisseur Andres Veiel ganz bewusst. Er will die Antriebskräfte der Kernfiguren der RAF auf etwas sehr Menschliches herunterbrechen: die Liebesbeziehung zwischen Bernward Vesper und Gudrun Ensslin.
Dieter Kassel: Die frühen 60er-Jahre in der deutschen Klein- und Universitätsstadt Tübingen. Bernward Vesper, Sohn eines NS-Schriftstellers, kommt in die Stadt, um zu studieren, und lernt recht schnell zwei junge Frauen kennen, eine davon Gudrun Ensslin. Es beginnt eine Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Menschen, die sich abarbeiten, nicht zuletzt am schwierigen Verhältnis zu den jeweiligen Eltern, die sich abarbeiten an ihrer Welt, an ihrer Zeit. Die Liebesbeziehung endet, in Gudrun Ensslins Leben wird Vesper ersetzt von Andreas Baader, und aus Reden über Veränderungen wird dann plötzlich Handeln.

Damit endet der Film dann auch schon, und manch einer mag sagen, huch, das ist doch genau die Stelle, an der es eigentlich erst richtig losgeht, und das ist das Besondere an diesem ersten Spielfilm von Andres Veiel. Er beginnt viel früher als fast alle anderen Filme und auch Bücher zu diesem Thema, und er endet dort, wo die meisten erst anfangen. "Wer wenn nicht wir" heißt der Film, der einzige rein deutsche Wettbewerbsbeitrag auf den Berliner Filmfestspielen, die anderen sind Koproduktionen, und der Film hat heute Abend im Berlinale Palast Weltpremiere.

In unserem Berlinale-Studio begrüße ich jetzt Andres Veiel – schönen guten Tag!

Andres Veiel: Hallo!

Kassel: Es war bisher bei der Berlinale immer so, dass Filme, die sich in irgendeiner Form mit der RAF beschäftigt haben, sehr harsche Reaktionen hervorgerufen haben – 1986 zum Beispiel "Stammheim", 2002 dann "Baader". Sind Sie ein bisschen nervös, was heute Abend angeht?

Veiel: Also ich mach den Film ja auch, um Provokationen auszulösen. Es geht gar nicht anders – Sie haben es ja angesprochen: Jedes Mal, wenn ein Film sich da neu positioniert, und "Wer wenn nicht wir" tut das ja auch ganz bewusst, indem wir in die Vorgeschichte reingehen, indem wir bestimmte Ikonenbilder zerstören und es eben niemandem recht machen, weder demjenigen, der da sagt, ja was, Gudrun Ensslin, Andreas Baader, über die gibt es doch nichts zu sagen, als dass sie eigentlich Kriminelle und Verbrecher sind, aber auch nicht denen, die jetzt die großen Heldenikonen erwarten. Das heißt, indem wir sie anders zeigen, indem wir sie herunterbrechen auf etwas sehr Menschliches, aber auch auf ihre Antriebskräfte, was eben in die Radikalisierung geführt hat. Das wird provozieren und das soll auch provozieren.

Kassel: Provozierend ist ja allein schon die Tatsache, dass – so finde ich das – dieser Film nicht ausschließlich, aber doch in großen Teilen ein Film ist über eine Liebesgeschichte.

Veiel: Ja, das Interessante für mich ist ja, dass diese Liebesgeschichte eben hoch politisch ist. Es gab ja immer früher diesen Satz, das Private ist politisch und das Politische ist letztendlich privat, und genau an diesen Nahtstellen wird diese Liebesgeschichte ja auch mit Politik, mit Öffentlichkeit verzahnt. Es fängt ganz früh an – Sie haben ja vorher das Dreieck erwähnt, also Bernward Vesper lernt zwei Frauen kennen –, das ist ja Anfang der 60er-Jahre, in einer Zeit, die noch sehr sauerstoffarm ist, wo es noch strafbar war, wenn man mit einer Frau irgendwo übernachtet hat, auch wenn man schon 21 oder gerade noch 21 war, weil das war sozusagen die Schwelle der Volljährigkeit, das war der sogenannte Kuppeleiparagraf.

Und in diese dumpfe Atmosphäre, da brechen die ja schon aus, probieren Dinge, eben eine "ménage à trois", eine Dreierbeziehung. Und diese Gleichzeitigkeit von Dingen, die eigentlich nicht zusammengehören, das war für mich der Reiz, zu gucken, wo fängt eigentlich die Politik an. Und sie ist eben gerade in diesen sehr privaten, in diesen, wenn man so will, auch Familienkonstellationen, was die Eltern angeht, die ihre Kinder, also in dem Fall Gudrun Ensslin und Andreas Baader, ja auch auf eine Reise geschickt haben.

Und es war eben nicht so, wie ich früher immer dachte, das war ein Kampf gegen faschistoide Eltern, sondern wenn ich sage, die Eltern schicken ihre Kinder auf eine Reise, dann, weil sie etwas selbst nicht geschafft haben. Nämlich sie selbst waren, also die Väter, mit einem Fuß im Widerstand im Dritten Reich. Sie haben es nicht umgesetzt, letztendlich aus Angst oder aus Feigheit, und da schwebte sozusagen ein Auftrag in der Luft.

Und das fand ich in den Recherchen auch sehr spannend zu sehen, es sind nicht die klassischen Familien-, Väterbilder, irgendwo verwickelt im Faschismus, und die Kinder, die jetzt da aufbegehren und gegen sie angehen. Sondern es gibt auch einen Wunsch, etwas zu Ende zu bringen. Etwas, was die Väter selbst nicht geschafft haben, wird weitergegeben an Gudrun Ensslin, Andreas Baader. Und das ist ein Auftrag, der, wenn man so will, in der falschen Zeit kam, der in einer Zeit kam, wo eben Deutschland nicht in einem neuen Faschismus steckte oder der auch jetzt nicht drohte.

Aber wenn wir jetzt griechische Verhältnisse bekommen hätten, also eine Militärdiktatur wie eben dort 1967, dann wäre dieser Widerstand ja richtig gewesen, auch berechtigt gewesen, und dann hätten wir heute eine - wahrscheinlich - Andreas-Baader-Allee oder einen Gudrun-Ensslin-Platz.

Kassel: Gerade was das Verhältnis zu den Eltern angeht, oder bleiben wir konkret mal bei dem Verhältnis von Bernward Vesper zu seinem Vater, da ist für mich im Film genau das passiert, was Sie vorhin schon gesagt haben über diese Verweigerung der eindeutigen Rollenzuweisung. Mir ist eigentlich immer noch nicht so ganz klar, was das bei den beiden für ein Verhältnis war. Hat er ihn nun geliebt oder gehasst, hat er ihn verehrt oder verachtet? Ist Ihnen das bei den Recherchen ...

Veiel: Alles zusammen, das ist ja genau das, was ich so interessant finde. Es gibt ja das Buch "Die Reise" von Bernward Vesper, wenn man so will das Lebenswerk von ihm, wo er mit voller Wut und Kraft gegen sich selbst anschreibt und auch gegen den Vater. Und da kommt der Vater vor als ein repressives Monster, was den Sohn unterdrückt hat.

Wenn man aber in den Dokumenten sucht, was ich sehr lange getan habe, dann stoße ich da auf eine, ja, man kann fast sagen auch ganz starke Liebe, und zwar eine beidseitige Liebe. Bernward, der zwar immer wusste, dass sein Vater da merkwürdige Blut-und-Boden-Literatur verfasst hat, aber fast krampfhaft versucht, ihn zu entschuldigen, ihn da reinzuwaschen. Warum? Weil der Vater umgekehrt auch an Bernward geglaubt hat, und Bernward kam davon nur ganz mühselig los. Er versucht es dann über "Die Reise", aber der Vater taucht immer wieder auf, und das zeigt, wie schwer es ist, sich zu befreien oder wirklich zu entkommen, diesem Schatten der Eltern zu entkommen.

Und das ist ja ein sehr universelles Thema, dass jede Generation sich immer neu finden muss, den alten Traumatisierungen der Elterngenerationen da etwas Eigenes zu entdecken, etwas Eigenes zu finden, gerade wenn man nicht auf die Eltern zurückgreifen kann. Das zeigt eben der Film, wie schwer das ist, und trotzdem gibt es einen Aufbruch, gibt es eine ganz große Kraft, die nach vorne geht, und das ist eben auch die Kraft dieser verrückten Liebesbeziehung.

Kassel: Diese Liebesbeziehung zwischen den beiden oder am Ende den Dreien ist ja etwas, was Sie in dem Film zeigen als Liebe und auch als körperliche Liebe. Ich weiß, dass Sie tausend Mal gefragt wurden, wie ist es für einen Dokumentarfilmer, nun einen Spielfilm zu drehen, woran da gar nicht gedacht habe, wie schwierig ist es Ihnen denn gefallen, Liebe wirklich in Bilder umzusetzen und den Schauspielern – es geht da auch zum Teil recht freizügig zu –, wie ein Regisseur das tun muss, wirklich zu sagen, was sie da machen sollen?

Veiel: Es war auch hier für mich die Herausforderung, das Private ist politisch: Das heißt, wir zeigen Sex nicht einfach eben als Sex, als gymnastische Übung und als Gekeuche und Gestöhne, sondern um etwas über diese Menschen zu erzählen in einer bestimmten Zeit, wo Sex einmal auch die Selbstverständlichkeit beinhaltet hat, die Körper nackt zu zeigen. Und das war wie ein politisches Manifest, man war eben nicht mehr verklemmt, so wie Jahre davor.

Zum anderen aber auch eine Abhängigkeit, eine Abhängigkeit, die bis ins Gewaltsame geht zwischen Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Die Kernszene ist, nachdem beide anderthalb Jahre im Knast waren und dann aufeinandertreffen, eine ganz große Begierde, eine ganz große Lust und gleichzeitig eine ungeheure Erwartung, dass jetzt alles möglich sein muss, worauf sie anderthalb Jahre gewartet haben. Und dann kann es nur schiefgehen. Und diese Szene, wir haben uns da sehr, sehr lange vorbereitet, weil das ist mit das Schwierigste, dass eben Sex im Film ja die größte Lüge ist. Wir machen keine Pornografie, gleichzeitig behaupten wir etwas, und dann sollen noch Emotionen dabei passieren.

Und das gut zu machen, das hat eben bedeutet, eine ganz klare Choreografie zu entwickeln, mit den Schauspielern zusammen, dass sie da eine Sicherheit haben – also nicht nach dem Motto, jetzt macht halt mal, und wir gucken mal und improvisieren, sondern es war sehr genau vorgegeben. Und innerhalb dieses Korsetts haben die Schauspieler sich dann wieder eine wunderbare Freiheit genommen. Das zusammen, das war eine sehr spannende Erfahrung, und ich glaube, vom Ergebnis bin ich da sehr nah dran an dem, was ich mir ursprünglich beim Schreiben vorgestellt habe.

Kassel: Wir reden gerade im Deutschlandradio Kultur mit dem Regisseur Andres Veiel über seinen Film "Wer wenn nicht wir", der heute Abend auf der Berlinale Premiere hat. Sie haben von Anfang an, Herr Veiel, die Öffentlichkeit an der Arbeit an diesem Film ziemlich beteiligt. Sie haben zugelassen, dass man Sie bei den Dreharbeiten besucht, darüber geredet, und es gibt eine Website, wo man diskutieren kann über den Film, mit Ihnen reden.

Und schon auf der Startseite dieser Website gibt es aktuell eine kleine Umfrage darüber, was man eigentlich von der Protestbewegung gegen Stuttgart 21 hält. Sehen Sie da wirklich einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Protestbewegung, wie sie in den 60er-Jahren entstanden ist, bei einigen Ihrer Protagonisten in den Terrorismus mündete, und der Protestbewegung heute?

Veiel: Das läuft natürlich unter anderen Vorzeichen, aber ich glaube, das, was die Zeiten verbindet, ist ein politisches Unbehagen. Damals bestimmt unter den Vorzeichen von Vietnamkrieg und Notstandsgesetzgebung, aber die Grundfragen, wo kommt bei jedem Einzelnen hier, jetzt, heute der Punkt, wo jemand sagt, was muss passieren, damit etwas passiert, wo es ein ganz großes Unbehagen gibt.

Vor zweieinhalb Jahren wieder aktuell durch die Finanzkrise, wo kurzzeitig für sechs Wochen ja schon die Systemfrage selbst in der "FAZ" gestellt wurde. Dann gab es kosmetische Maßnahmen, und sehr schnell hat sich das mit sehr, sehr, sehr viel Geld scheinbar beruhigt. Aber wir sind dabei, die nächste Blase, die füllt sich bereits, und Zyniker sagen, das gehört zum System. Aber ich denke, wenn sie das nächste Mal platzt, dann trifft es noch sehr viel mehr und dann wird sich noch viel drastischer zeigen, dass eben Gewinne, Profite privatisiert und Verluste sozialisiert werden, und es ist die Frage, wer bezahlt das.

Ich denke, da gibt es ein Unbehagen, und es ist nur die Frage, wo kann man das festmachen. Es sind eben dann anders als in den 60er-Jahren nicht einzelne Personen, es ist sehr viel komplexer, es ist sehr viel komplizierter, und da denke ich wie ein Kugelblitz, der sich dann erst mal festmacht oder einschlägt an einer Bahnhofswand oder bei Parkbäumen.

Bei diesen konkreten Punkten findet man Themen, da macht sich's fest. Und die spannende Frage – und deshalb ist es auf unserer Webseite – die spannende Frage ist: Vernetzt sich das irgendwann mal oder bleibt es wirklich monothematisch und hier flaut es ab und dafür flaut es vielleicht in Rheinland-Pfalz oder im Saarland an einem ganz anderen Punkt wieder auf und flaut auch da wieder ab.Also sind es regionale Ereignisse oder kippt es um? Man weiß es nicht. Aber ich interessiere mich dafür, und deshalb ist es mir wichtig, auf dieser Webseite breiter genau diese Sachen zu diskutieren.

Kassel: Ist es Ihnen eigentlich – um auf den Anfang unseres Gesprächs zurückzukommen, wo ich schon verstanden habe, dass viele Leute sagen werden, so wie der Veiel das gemacht hat, kann man das nicht machen, diese Geschichte erzählen, das werden Sie ganz gut aushalten. Aber wie wichtig ist Ihnen denn jetzt eigentlich der Erfolg auf der Berlinale? Ist es wichtig oder ist es egal?

Veiel: Wichtig ist für mich, das ist ja die Frage, was ist Erfolg? Ist Erfolg, wenn nachher den Film 100- oder 200- oder 500.000 sehen? Das ist bestimmt eine Kategorie von Erfolg, oder wenn heute Abend applaudiert wird, sicher auch. Für mich gibt es noch eine andere Kategorie, und die ist wichtiger, die ist nämlich die, wenn jemand auch vielleicht in fünf oder zehn Jahren noch mal kommt und sagt, Mensch, ich hab damals den Film gesehen und der lässt mich nicht mehr los, seitdem denke ich da immer wieder dran oder auch in Debatten komme ich drauf zurück.

Das heißt, das Spannende wird sein, weil eben ja jetzt heute Abend ein internationales Publikum da ist, wird der Film von jemand, der aus Simbabwe kommt, aus Timbuktu, aus Südafrika oder Japan, wird der Film da auch verstanden und wie wird er verstanden? Was sind sozusagen rein deutsche Fragen oder wo werden sie universell, wo trifft dann eine Debatte aus einem ganz anderen Kontinent auf meine Fragen? Und das gibt irgendetwas Drittes, Spannendes, und darauf bin ich sehr, sehr neugierig.

Kassel: Dann wünsche ich Ihnen diese Art von Erfolg, fände es persönlich aber auch nicht schlimm, wenn es die andere wäre und es Zuschauer ab 10. März so nebenher auch noch gäbe.

Veiel: Da sage ich auch nicht Nein.

Kassel: Hab ich mir fast gedacht. Andres Veiel. Sein Film "Wer wenn nicht wir" hat heute Abend auf der Berlinale Premiere, steht im Wettbewerb. Es gibt natürlich noch mehr Vorstellungen, sind aber alle ausverkauft.

Veiel: Und am 10. März kommt er ins Kino, um das einfach schon mal zu sagen.

Kassel: Ich wollte gerade sagen, Trost ist, ab 10. März kann ihn jeder sehen, der halbwegs in der Nähe eines Lichtspielhauses wohnt. Jetzt haben wir es beide gesagt. Dank Ihnen fürs Gespräch, Herr Veiel!

Veiel: Prima, danke!


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