Das wertlose Wertesystem der Finanzbranche

Von Julia Friedrichs · 21.10.2011
Nach der Lehman-Pleite verfiel die Finanzbranche für einen kurzen Augenblick in eine Art Schockstarre, doch bald darauf kehrten die Investmentbanker und Finanzjongleure zum "business as usual" zurück. Dabei haben sie vergessen, dass es unser Geld ist, mit dem sie spielen.
Im vergangenen Jahr schütteten die Banken der Wall Street mehr als 140 Milliarden Dollar als Boni aus. Der Chef der britischen Barclays Bank, Bob Diamond, sagt, die Zeit der Gewissensbisse sei nun vorbei. Und Alexander Dibelius, der Deutschland-Chef der Investment-Bank Goldman Sachs, gibt sich nach wie vor "davon überzeugt, dass das, was die Investmentbanken tun, der gesamten Gesellschaft nutzt."

"Geht’s noch!?", möchte man aufschreien. Es ist eine der irritierendsten, eine der verstörendsten Folgen der Finanzkrise. Dieses Abwiegeln, dieses Ablehnen von Schuld und Verantwortung, das große Teile der Bankenbranche betreiben. Nur kurz dauerte ihre Schockstarre nach dem Fast-Total-Crash im Anschluss an die Lehman-Pleite. Damals dachten viele, es sei nun vorbei mit dem Herrscher-der-Welt-Gestus. Die gerade gerettete Branche würde bescheidener werden, demütiger. Das war ein gewaltiger Irrtum.

Zwei Stunden lang rang ich mit einem führenden Mitglied der Deutschen Bank um die Frage, ob er und seine Kollegen Fehler gemacht hätten, ob sie Schuld an der Krise träfe, ob sie anders hätten handeln müssen. Sein Mantra lautete: "Sehr große Teile der Branche machen einen verantwortungsvollen Job, haben in der Vergangenheit einen verantwortungsvollen Job gemacht und werden dies auch künftig so tun." Meine Fragen seien vereinfachend, klagte er, um sich dann in eine Metapher zu flüchten: Ich möge mir einen Bergsee vorstellen, der die Finanzwelt symbolisiere. Ein See mit kaltem, klaren Wasser. Er sagte: "Wenn Sie nun einen Tropfen Öl hineingeben, bestimmt der die Qualität Ihres Bergseewassers." Mehr sei nicht geschehen. Nur ein Tropfen Öl.

Und bei meiner Recherche auf den Kaiman-Inseln, einer der berüchtigtsten Steueroasen, zuckten die Befragten stets mit den Schultern, wenn ich nach Verantwortung fragte, und nach dem Schaden, den Konstrukte wie diese Steuervermeidungsoase ganzen Staaten zufügten. Wir machen nur einen Job, antworteten sie, und baten mich, die Insel nicht als "Steueroase", sondern bitte allenfalls als "steuerneutral" zu titulieren.

Es ist, als lebten sie in einer eigenen Welt. Losgelöst von den Werten und der Wut aller anderen. Kinder eines Glaubenskanons, der seit den 1980er Jahren gepredigt wird und der vor allem zwei Gebote kennt: Das eine ist der Satz, den Margarat Thatcher, eine der Mütter des Neoliberalismus, prägte: "So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht". Das zweite Gebot stammt vom Nobelpreisträger Milton Friedman: "In einem freien Wirtschaftssystem gibt es nur eine einzige Verantwortung für die Beteiligten", schrieb er. "Sie besagt, dass die verfügbaren Mittel möglichst Gewinn bringend eingesetzt und Unternehmungen unter dem Gesichtspunkt der größtmöglichen Profitabilität geführt werden müssen."

Wer diesem Glauben anhängt, dem Glauben, dass eine Gemeinschaft nicht existiert und dass Gewinn und Profit die einzige Verantwortung der Wirtschaft sind, für den müssen die Fragen nach Schuld, nach Demut, nach Gewissensbissen tatsächlich wie Fragen aus einer anderen Welt klingen. Das wäre kein Problem, wenn die Parallel-Welt der Finanzbranche ihr eigenes Geld hätte. Es ist aber unser aller Geld.

Nachdem die rot-grüne Bundesregierung die Finanzmärkte dereguliert hatte, wird nun allerorten danach gerufen, sie wieder zu zähmen. Da wird eine höhere Eigenkapitalquote verlangt, eine Reform der Rating-Agenturen, die Einführung einer Transaktionssteuer, von manchen sogar eine Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken.

Das alles mag sinnvoll sein. Aber es wäre ein Fehler, nur auf Gesetze zu hoffen. Solange es nicht gelingt, in die Parallelwelt einzudringen, werden sich die Helden der Finanzwirtschaft weiter darauf berufen, dass alles, was nicht verboten ist, erlaubt sein muss. Sie werden weiter verkünden, dass es eine Verantwortung zu moralischem Handeln in ihrer Branche nicht gäbe. Die Untersuchungskommission des US-Kongresses nannte als einen Auslöser für die Krise: Gier. "Aber Gier", schreibt der Fernsehjournalist Ulrich Wickert zurecht, "Gier handelt nicht." Es seien gierige Menschen, die gierige Entscheidungen getroffen hätten.

Und daran müssen wir genau diese Menschen immer wieder erinnern.


Julia Friedrichs, Jahrgang 1979, arbeitet seit dem Journalistik-Studium als freie Autorin von TV-Reportagen und Magazinbeiträgen. Im Jahr 2007 wurde sie mit dem Axel-Springer-Preis für junge Journalisten und dem Ludwig-Erhard-Förderpreis ausgezeichnet. Buchveröffentlichungen: "Gestatten: Elite. Auf den Spuren der Mächtigen von morgen" (2008), "Deutschland dritter Klasse. Leben in der Unterschicht" (mit Eva Müller und Boris Baumholt, 2009), "Ideale. Auf der Suche nach dem, was zählt" (2011).
Die Journalistin Julia Friedrich
Die Journalistin Julia Friedrich© Gerrit Hahn / Hoffmann & Campe
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