Das Warschauer Szeneviertel Praga

Von Margarete Wohlan · 16.09.2013
Bis vor zehn Jahren galt Praga als Schmuddelviertel Warschaus, heute haben sich dort Cafés, Galerien, Clubs und Start-up-Unternehmen angesiedelt. Der Stadtteil steht für ein wirtschaftlich aufstrebendes Polen. Die Kehrseite: Viele Bewohner können sich die Mieten nicht mehr leisten.
Sie ist etwas Besonderes – sowohl für den Stadtteil Praga als auch für ganz Warschau: Ulica Mala, die Kleine Straße. Kopfsteinpflaster, ein Dutzend Bürgerhäuser im Jugendstil, gebaut zwischen 1900 und 1920. Im Osten Warschaus gelegen, galt Praga lange als das Schmuddel-Viertel der polnischen Hauptstadt. Das hat sich geändert, wenn auch nur langsam. Als die Designerinnen Magda Szyszka und Marta Skuza hier vor drei Jahren ein leer stehendes Ladenlokal entdeckten, war ihnen klar: Hier wollten sie bleiben.

Magda Szyszka: "Diese Straße mit ihren historischen Häusern aus der Zeit vor dem Krieg ist die einzige in der ganzen Stadt, die komplett erhalten geblieben ist. Häufig werden hier Filme gedreht und auch Touristen sieht man hier oft. Die Kleine Straße gefällt uns – und deshalb gaben wir unserem Laden auch den Namen 'Du gefällst uns, Kleine'."

Magda und Marta – zierlich, Pagenfrisur, in Jeans und übergroßen T-Shirts – trauten sich damit in ein auch damals noch gefährliches Viertel, um das die Einwohner Warschaus einen großen Bogen machten. Heute sind die beiden 30-Jährigen froh über ihren Laden – der eigentlich eine Werkstatt ist. Zwei Räume, Kochnische, Toilette. Mit Nähmaschine, Schere und Tacker stellen sie hier aus alten Werbebannern neue Handtaschen, Geldbörsen und Schutzhüllen für Laptops her. Der Fußboden ist übersät mit Reklamefolien, Magda sitzt im Schneidersitz daneben und bedient souverän die Nähmaschine.

Marta Skuza: "Uns war wichtig, ein Schaufenster zu haben, einen Eingang zur Straße. Und das war hier der Fall. Deshalb kamen wir nach Praga."

Magda Szyszka: "Obwohl es ein zusätzliches Plus war, dass wir den Laden hier fanden. Denn Praga ist anders als der Rest von Warschau. Es hat einen besonderen Charme, alles läuft etwas gemächlicher ab. Wenn man die Weichsel überquert und Praga betritt, spürt man das sofort."

Als sie den Laden mieteten, hatten sie dafür noch keinen Blick. Denn auch das ist Praga: Viele der alten Häuser, die aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammen, sind verwahrlost und baufällig. Im sozialistischen Polen setzte man andere Prioritäten, investierte in Plattenbau. Die beiden Designerinnen mussten ihren Laden komplett renovieren.

Marta Skuza: "Wir mussten zuerst Fenster einbauen, die Decke war geschwärzt, als hätte hier jemand Feuer gemacht.

Magda Szyszka: ""Es gab keine Toilette, die haben wir im Hinterzimmer eingebaut. Mit Hilfe von Bekannten und Verwandten haben wir das alles selbst gemacht. Der Bruder von Marta hat die Elektrik gelegt, denn es gab hier auch kein Licht.

Marta Skuza: ""Was uns motiviert hat, war die niedrige Miete. Wir zahlten am Anfang umgerechnet 62 Euro – jetzt nach drei Jahren sind es hundert Euro. Das ist also nicht viel."

Die niedrigen Mieten für Leute wie Marta und Magda sind Programm, denn die Stadt will Künstler und Freiberufler nach Praga locken und damit das Viertel aufwerten. Es soll das neue Szeneviertel der Hauptstadt werden. Und ist auf dem besten Weg dorthin. Gut zu besichtigen und zu hören in einer Parallelstraße, fünf Minuten Fußweg von Marta und Magda entfernt.

"Paris des Nordens" wird das Viertel auch genannt
Jerzy Jagmurzinski ist DJ, Conférencier und Karaoke-Ansager im Club "Paris des Nordens" in Praga. Der Name des Clubs soll an den guten Ruf der Stadt in den 20er-Jahren erinnern. Für Jerzy der ideale Ort, um seine Talente zu testen.

"Ich habe nirgendwo auf der Welt so eine Atmosphäre erlebt wie in Praga, vor allem hier im 'Paris des Nordens'. Dieser Ort ist klein, und für Leute, die nicht unbedingt ein Riesen-Buhei brauchen, ist er ideal. Die Leute spüren auch sofort die Atmosphäre, wenn sie reinkommen, es ist so familiär."

Eine kleine Bühne, Second-Hand-Möbel, Omas Lampen und Che-Guevara-Poster an der Wand. Alle Gäste sind unter 30, sitzen entspannt auf den abgenutzten Sesseln und nippen an ihrem Bier. Alicja Szkamruk, eine 30-jährige Schauspielerin, führt das Lokal seit fast zwei Jahren. Schlank, blond und schick, aber nicht aufgedonnert, empfängt sie jeden Gast, als kenne sie ihn persönlich.

"Wir haben in Praga häufig Events wie die 'Nacht von Praga' oder die 'Künstler von Praga'. Es gibt Konzerte, wo Massen hinströmen, das ist toll! Ich organisiere manchmal selbst einen alternativen Poesie-Abend, eine Vernissage oder auch ein Konzert. Und mittwochs und samstags haben wir Karaoke, weil das, glaub ich, der einzige Karaoke-Club in ganz Praga ist."

Vor einigen Jahren war so etwas in Praga noch undenkbar, denn das Viertel war die dunkle Seite von Warschau. 1916 eingemeindet, war es durch die Weichsel schon immer vom "besseren" Warschau getrennt – dort, wo die nachgebaute Altstadt die Touristen lockt und wo der polnische Präsident Komorowski heute seinen Amtssitz hat.

Gegenüber dagegen entstand nach der Wende der riesige Freiluftmarkt "Jarmark Europa" mit seinen über 5000 Kleinhändlern aus Vietnam, Russland, der Ukraine und dem Kaukasus. Doch spätestens mit der Fußball-Europameisterschaft 2012 war es damit vorbei. Und es begann die Vision vom "neuen" Praga.

Laura Koslowa: "Sie können sich ja umschauen, wir gehen mal in den Hausflur rein. Es gibt oft, wie hier, keine Fenster, sehr häufig offen herumliegende Kabel, und daneben spielen Kinder!"

Laura Koslowa kommt aus Moskau und lebt seit 13 Jahren in Praga. Das Haus, das sie gerade vorsichtig betritt, stammt aus der Vorkriegszeit und steht in einem Hinterhof in der Ulica Brzeska. Eine typische Straße im historischen Teil des Viertels – zwischen Wohnblocks aus den 70er-Jahren und verrotteten Häusern aus dem 19. Jahrhundert.

"Der Hausflur ist ein Alptraum, so wie hier, die Briefkästen kaputt, die Leute müssen zur Post, um ihre Briefe abzuholen. Manchmal schlafen Obdachlose im Flur und pinkeln in die Ecken. Es ist feucht und oft auch voller Schimmel, das ist für Lungenkranke sehr schlimm. Manche werden auch erst hier krank. Und dieses Haus ist nicht das schlechteste, es gibt schlimmere."

Seit 2009 gibt es ein "Komitee für die Mieterverteidigung"
Das historische Praga ist nicht groß: gerade mal zwölf Quadratkilometer. Die 75.000 Einwohner haben keine Lobby – bei 1,7 Millionen Einwohnern in ganz Warschau. Wer im sozialistischen Polen hier wohnte, konnte sich nichts Besseres leisten. Heute sind das die Mieter, die unerwünscht sind, solche wie Laura.

Die 48-jährige Laura engagiert sich im "Komitee für die Mieterverteidigung" – einem Verein, der 2009 gegründet wurde, als private Investoren anfingen, alte Häuser aufzukaufen und zu sanieren.

"Das Haus hier gehört zwei Männern, die insgesamt 60 Häuser in Warschau besitzen. Sie sehen, es wird saniert. Die Männer haben das Recht, nach einer festgesetzten Zeit den Mietern zu kündigen. Deshalb ist es für uns schwer, diese Mieter zu schützen. Die Eigentümer haben das Haus sofort eingerüstet, und einige Mieter sind bereits vor der Kündigung ausgezogen, weil die Mieten sofort erhöht wurden.

Einige Mieter sind aber geblieben und warten ab, mit unserer Hilfe. Nun haben die Eigentümer das Haus an 'Finex Investment' verkauft, eine ausländische Kapitalgesellschaft, die sich durch Investmentfonds finanziert. Sie sind spezialisiert auf historische Gebäude und werden das Haus restaurieren."

Die, die ausziehen, sind vor allem ältere Frauen, Witwen, die von ihrer kleinen Rente die höheren Mieten nicht bezahlen können, sagt Laura. Sie selbst lebt als Allround-Künstlerin von Aufträgen und kann nachfühlen, was in diesen Frauen vorgeht.

"Ich sehe, dass sie in der schwächeren Position sind. Sie wissen nicht, wie sie kämpfen können, denn diese Generation hat das nicht gelernt – im Kommunismus gab es sowas nicht. Deshalb muss ich für sie kämpfen."

Es ist jedoch schwer, solche Menschen davon zu überzeugen, dass sie kämpfen müssen. Solche wie Silvia Pienias.

Samstagnachmittag in einem Park in Praga. Silvia Pienias führt ihren Hund aus, einen kleinen lebhaften Mischling. Eine 80-jährige Rentnerin mit Kittelschürze, die lebhaft und voller Zuneigung über ihr Viertel spricht. Sie lebt seit 1939 hier, seit ihrem sechsten Lebensjahr.

"Früher gab es in diesen alten Mietshäusern nur einen Ofen, man musste die Kohle allein hochtragen – das war sehr schwer. Jetzt verändert sich alles. Aber wenn man zur Miete wohnt, dann ist das nicht lustig. Für eine Sozialwohnung zahlt man monatlich 200 Zloty Miete – bei einem privaten Vermieter ist dieselbe Wohnung gleich zehn Mal so teuer. Wir brauchen mehr Wohnungen von der Stadt, aber es ist sehr schwer, eine zu kriegen. Manche warten Jahre."

200 Zloty, umgerechnet 50 Euro – und das bei einer Rente von knapp 200 Euro. Doch damit nicht genug: Vor kurzem wurde Silvia, die Witwe ist, zwangsumgesiedelt.

"In meinem Alter hatte ich natürlich Angst, aber was sollte ich machen? Der neue Vermieter hat es angeordnet, und wenn ich nicht eingewilligt hätte, dann hätten sie mich rausgeschmissen. Am Ende gewinnen die doch sowieso! Man hat uns in ganz Praga verteilt. Ich hatte noch Glück, dass ich hier gelandet bin, habe den Park in der Nähe. Andere mussten ans andere Ende der Stadt ziehen, weit weg."

Eine Art Schicksalsergebenheit prägt die Haltung von vielen alten Einwohnern, verbunden mit einer stillen Freude, dass sich das Viertel belebt.

"Es verbessert sich! Neue Viertel entstehen – das ist doch schön! Die alte Wodka-Fabrik wird umgebaut zur Kultur- und Wohnanlage. Ich will hier nicht weg. Das ist wie ein Dorf, alle kennen sich, die Alten und die Neuzugezogenen leben zusammen. Das ist gut! Ich fühle mich hier wohl, kenne alle und rede mit allen."

Das andere Gesicht von Praga ist nur drei Straßenbahnstationen von Silvias Park entfernt. 280 Mitarbeiter der international erfolgreichen Computerspiel-Firma "CD Projekt" verteilen sich auf drei Etagen eines ehemaligen Fabrikgebäudes.

Die Empfangslobby: bunte Decken, eine Sitzgruppe für Besucher, junge Mitarbeiter, die sich an der Espressomaschine ihren Kaffee holen. Hier wird "The Witcher" entwickelt – ein Fantasy-Spiel, in dem es vor allem um Macht geht. Fünf Millionen wurden bisher weltweit davon verkauft.

Marcin Iwinski ist einer der beiden Gründer von "CD Projekt" und davon überzeugt, dass Praga auf einem guten Weg ist, allen kritischen Stimmen zum Trotz:

"Es gibt keine Alternative. Wenn man die Mieten nicht erhöht, saniert keiner die Häuser, weil es sich nicht lohnt, und alles bleibt wie es ist! Der Wandel ist verbunden mit Mietsteigerung, klar – aber gleichzeitig auch mit einer Aufwertung des Viertels. Wenn man das nicht akzeptiert, wird Praga verfallen, befürchte ich."

Laura vom "Komitee für die Mieterverteidigung" sieht das anders:

"Ich weiß nicht, woher diese neuen Besitzer ihre Mieter nehmen wollen, denn wir haben im Moment in Polen ziemliche ökonomische Probleme. Manche Leute, die Arbeit haben, können diese Preise auch nicht zahlen. Und so stehen viele neue und sanierte Häuser leer."
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