"Das war pure Verantwortung"

Heidrun Wimmersberg und Michael Groth im Gespräch mit Joachim Gauck · 24.07.2010
Der ehemalige Kandidat für das Bundespräsidentenamt, Joachim Gauck, hat taktisches Kalkül bei seiner Nominierung erkannt. Trotzdem habe er ein Übermaß an Unterstützung von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen erhalten, erklärte Gauck.
Deutschlandradio Kultur: Herr Gauck, wer hat Sie eigentlich angerufen und gefragt, ob Sie für das Amt des Bundespräsidenten kandidieren wollen?

Joachim Gauck: Oh, das waren verschiedene. Herr Steinmeier hat angerufen, Herr Gabriel.

Deutschlandradio Kultur: Wer war der erste?

Joachim Gauck: Ich glaube, das war Herr Steinmeier, Herr Steinmeier oder Herr Gabriel. Jetzt bringe ich es durcheinander. Es handelt sich da nur um wenige Stunden. Und dann Renate Künast, die rief aus China an. Die war gerade in Shanghai. Also, dann waren sie alle versammelt von Rot-Grün, was meine Verwunderung ja nur noch gesteigert.

Deutschlandradio Kultur: Der Anruf hat Sie schon überrascht?

Joachim Gauck: Ja.

Deutschlandradio Kultur: Oder die Anrufe.

Joachim Gauck: Total, ja, weil das war nun nicht in meiner Lebensplanung.

Deutschlandradio Kultur: War Ihnen denn klar, dass hinter den Anrufen auch ein bestimmtes politisches Kalkül steckt?

Joachim Gauck: Ja, das kann ich schon sehen. Ich bin ja nicht mehr ganz jung und kann natürlich auch ein taktisches Kalkül erkennen. Aber ich hatte den Eindruck, dass es daneben noch eine andere gute Begründung geben könnte, mich zu nominieren. Das hat sich dann sehr bald als richtig herausgestellt, diese eigene Einschätzung, weil das Übermaß an Unterstützung von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, dann auch in den Medien querbeet und von Intellektuellen das zeigt nun doch, das muss noch etwas anderes gewesen sein als nur taktisches Kalkül. Denn niemals hätten sich diese ganzen Menschen bereit gefunden, eine solche Kandidatur zu unterstützen, wenn es nur um ein taktisches Spielchen gegangen wäre.

Deutschlandradio Kultur: Da kommen wir gleich noch drauf, Herr Gauck. Aber war die Tatsache, dass Sie ja dann doch schnell angenommen haben, auch so ein bisschen Spieltrieb bei Ihnen?

Joachim Gauck: Nein, das war es nicht. Das war pure Verantwortung. Wenn Sie von einer der ganz großen und wichtigen Parteien in der deutschen Geschichte diese Anfrage bekommen, dann ist das eine ernsthafte Anfrage. Und ich habe von Anfang an klar gemacht, dass ich es vorziehen würde, von der Union und von den Freien Demokraten auch nominiert zu werden. Aber als Gabriel mich dann fragte, wenn das nicht erfolgen würde, ob ich dann nein sagen würde, na gut, also, das geht nicht. Das wäre dann verspielt gewesen, dann zu sagen, ich spiele nur mit, wenn mich alle lieb haben. Das geht nun nicht.

Deutschlandradio Kultur: Sie beschreiben sich ja selbst auch als liberal und konservativ. Hätten Sie sich so eine Anfrage nicht eher von Schwarz-Gelb vorstellen können?

Joachim Gauck: Ja, ich bin also ein linker liberaler Konservativer. Und da sind zwei Elemente dabei, also, die Liberalen und Konservativen, von denen ich in der Tat eher eine Anfrage erwartet hätte, wenn überhaupt. Ich habe aber gar keine erwartet.

Deutschlandradio Kultur: Nach dem Rücktritt von Horst Köhler wollte die Kanzlerin offenkundig einen Politprofi aus der CDU im Schloss Bellevue. Können Sie das nachvollziehen?

Joachim Gauck: Ja klar. Ich habe von Anfang an schon bei meiner ersten Pressekonferenz gesagt, dass ich erfahren genug bin, um auch Zwänge oder vorgebliche Zwänge im parteitaktischen Rahmen zu erkennen, auch, glaube ich, mir vorstellen zu können, was eine Parteivorsitzende alles bedenken muss, dass es verschiedene Kräfte und Kraftzentren gibt in einer solchen Partei, was da alles zum Ausgleich gebracht werden muss. Dann gibt’s noch eine Koalition, also, wo die Regierungschefin dies und jenes bedenken muss. Also, dass sie nun völlig frei gewesen sein könnte, das ist doch eher eine romantische Vorstellung.

Deutschlandradio Kultur: Was hat Sie denn am meisten gereizt, diese Kandidatur anzunehmen und zu sagen, ja, ich mach’ das jetzt?

Joachim Gauck: Das ist eine schwere Frage für mich. Ich hab gespürt, dass ich in einer Situation, in der uns der Bundespräsident abhanden gekommen wäre, möglicherweise das eine oder andere Wort parat gehabt hätte, um Menschen auch zu ermutigen. Ich habe auf meinem Lebensweg das jedenfalls erlebt, dass ich Menschen auch durch meine Art, mit ihnen zu reden, zu ihren eigenen Kräften bringen konnte. Es ist mir oft so gegangen, dass Menschen dann auch besser verstanden haben, was sie selber können, und das auch wollten. Und das konnte ich mir auch vorstellen in diesem Rahmen, ja.

Deutschlandradio Kultur: Waren denn die Reaktionen auf Ihre Kandidatur im Osten, in den neuen Bundesländern, und in den alten Bundesländern unterschiedlich?

Joachim Gauck: Erstaunlicherweise war es sich sehr ähnlich. Und was ich nun gar nicht erwartet hatte, war, dass die Zustimmung im Osten noch größer war als im Westen. Wir haben ja hier in Ostdeutschland eine Partei, die häufig vorgibt, die Stimme des Ostens zu sein. Das ist die so genannte Linkspartei. Und wir haben in der Zustimmung zu meiner Person im Osten nun mal gemerkt, dass sie nicht die Mehrheit der Ostdeutschen vertritt, sondern, wie sonst auch, eben nur eine Minderheit der Ostdeutschen. Und das ist hier sehr deutlich geworden. Und ich hatte doch gedacht, dass die Zustimmung zu mir im Westen größer sei als im Osten, weil es eben doch im Osten eine breitere Wählerschicht gibt, die der Linkspartei und damit auch einer gewissen Nostalgie huldigt. Das hat sich nun als Irrtum rausgestellt. Da war ich ganz glücklich drüber. Die Leute haben begriffen, worum es hier wirklich geht.

Deutschlandradio Kultur: Wenn man Ihren Wahlkampf auf eine Botschaft konzentrieren will, wie hieß die?

Joachim Gauck: Freiheit als Verantwortung. Das heißt, dass ich der Auffassung bin, Menschen tun sich nichts Gutes, wenn sie sich einbilden, sie seien ohnmächtig und kraftlos. Und das sind wir auch nicht, sondern wir sind Bürger. Wir wählen die, die uns regieren. Wir wählen sie ab. Wir können auch, wie wir gerade in Hamburg gesehen haben, an anderer Stelle unsere Meinung mal durchsetzen. Das gelingt nicht immer, aber man kann das betreiben. Deshalb ist mir jede politische Propaganda, aber auch jeder Diskurs abhold, der den Leuten Angst macht. Und ich setze auf eine ermächtigende Kommunikation. Und ich glaube, dass die Probleme, die uns umgeben, lösbar sind und vertrete also, wenn Sie so wollen, einen aufklärerischen Ansatz. Die Leute haben diese Botschaft eigentlich auch gern gehört. Wir haben also sehr erstaunliche Bewegungen hin zum Politischen erlebt, die wir vorher, vor dieser Kandidatur nicht gekannt haben.

Deutschlandradio Kultur: Waren Sie dann so eine Art Mediator, der den Menschen auch Mut gemacht hat, vielleicht sich auch da ein bisschen mehr zu engagieren und einzubringen, um das vielleicht auch umzusetzen, was man vorher immer nur gedacht hat?

Joachim Gauck: Ja, so sehe ich das. Es ist ganz erstaunlich, dass ich in eben diesen revolutionsfernen Zeiten an die revolutionäre Phase von 89 gedacht habe. Da war es nämlich so, wo ich ganz konkret erfahren habe, dass ich aussprechen konnte, was die Menschen fühlten. Die waren oft noch nicht imstande, das zu artikulieren. Das habe ich getan und konnte ihnen so Angst nehmen und sie dann auch motivieren, die nächsten Schritte zu tun, so wie Sie eben gefragt haben.

Und an diese Zeit fühlte ich mich wieder erinnert, obwohl es eine ganz andere Zeit ist. Aber was heute ein Problem ist, dass oft die Masse der Menschen, die bei uns leben, das Gefühl hat, sie haben gar nichts damit zu tun, was politisch abgeht, als wäre das nicht ihr Wille, der vollzogen wird, als hätten sie diese Leute nicht gewählt, die uns regieren. Das haben sie aber. Oder sie haben sie eben nicht gewählt, dann haben sie was versäumt.

Aber es ist so, dass wir einen ziemlich großen Graben haben zwischen denen, die regiert werden, und denen, die regieren. Ja, das ist nicht gut. Da entsteht Fremdheit. Und wo Fremdheit ist, wächst auch leicht Angst.

Deutschlandradio Kultur: Würde diese Glaubwürdigkeit, von der Sie sprechen, vielleicht wachsen, wenn der Bundespräsident direkt vom Volk gewählt würde?

Joachim Gauck: Nun, ein Teil der Bevölkerung denkt das. Und ich denke es manchmal. Aber ich habe darüber in den letzten Wochen bei allen Fragen, die ich in diese Richtung bekommen habe, immer gesagt, ich möchte noch ein paar Argumente hören. Ich möchte die Verfassungsrechtler hören. Ist es nicht so, dass wir dann, wenn wir ihn vom Volk wählen lassen würden, eine zweite sehr starke Autorität hätten, von der die Bevölkerung dann annehmen würde, der kann vielleicht das, was die Regierung entschieden hat, korrigieren. Na, dann hätten wir aber eine Ersatzregierung oder eine Art Kaiser, der denn alles kitten kann, was unten entschieden ist. Und das wollte ja das Grundgesetz nun nicht.

Dann aber habe ich gelernt, dass in Österreich der Präsident auch vom Volk gewählt wird. Und der hat auch eine relativ schwache Stellung dort. Das müsste man vergleichen, unsere Erfahrung und die der Österreicher, und dann noch mal die Bedenken der Fachleute für Verfassungsrecht hören.

Aber ich suche nach Möglichkeiten, wie die Bevölkerung mehr das Gefühl kriegt, das ist unser Land, das ist unsere Demokratie. Und dann wäre es natürlich hilfreich, sie könnten auch mit wählen. Ich habe das jetzt so oft erlebt. Jeden Tag, wenn ich auf die Straße gehe, sprechen mich Leute an: Wenn wir hätten wählen können, Sie wissen ja, was dann passiert wäre.

Deutschlandradio Kultur: So wären Sie vermutlich Bundespräsident geworden.

Joachim Gauck: Ja, sicher. Das wäre so, weil, die Meinungsumfragen waren so eindeutig. Und da braucht man nicht überheblich zu sein, das wäre wahrscheinlich so gekommen. Aber es hat auch bisher immer geklappt mit unserer Möglichkeit, die wir hier nun haben. Was allerdings diese Kandidatur nun besonders geprägt hat, ist, dass in einer breiteren Schicht als früher die Frage kam: Ist es wirklich notwendig, dieselben Mechanismen wie bei einer Regierungsbildung anzuwenden bei der Wahl zu diesem Amt? Und das ist offenkundig nicht der Fall. Denn - das kann man machen, aber es ist nicht erforderlich, so dass möglicherweise doch auch mal ein Parteiloser vielleicht Bundespräsident werden kann. Und ich habe mit Interesse gehört, dass Sigmar Gabriel zumindest gesagt hat: Auch wenn er die Mehrheit hätte mit seinen Truppenteilen, wolle er beim nächsten Mal dies ins Gespräch bringen. Na schaun wir mal.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben eben die tiefen Gräben erwähnt, die es zwischen den Regierenden und den Regierten gibt. Was, denken Sie, ist der Grund dafür, dass man sich da nicht mehr versteht, dass es diese tiefen Gräben gibt.

Joachim Gauck: Es ist wohl kein böser Wille. So weit dürfen wir, wenn wir uns seriös unterhalten, schon gehen. Sondern es ist so: Das Politikgeschäft ist hoch komplex und ist manchmal auch schwer zu verstehen, auch für Insider. Denn es geht nicht immer nur um Sachentscheidungen, sondern es geht auch darum, dass eine Sachentscheidung, die an und für sich vernünftig ist, platziert werden muss, und zwar so, dass die Mehrheit der Bevölkerung oder jedenfalls annähernd die Mehrheit es nachvollzieht.

Deshalb, denke ich, wäre der Politik geholfen, wenn es gelingen würde, gerade konfliktträchtige Themen intensiver mit der Bevölkerung zu besprechen. Und ich frage mich: Wie geschieht das? Das Parlament debattiert, aber die Bevölkerung kriegt das nicht genug mit.

Deutschlandradio Kultur: Können die nicht oder wollen die nicht die Politiker?

Joachim Gauck: Ich glaube, sie haben noch nicht gespürt – wissen Sie, das Element, Macht zu verwalten, auch Macht zu erwerben, Macht wieder los zu werden, das ist alles geregelt, aber anders als vor 100 Jahren ist unser demokratisches System auch eine Mediendemokratie. Das heißt, die Systeme funktionieren alle, aber oft ist nicht das Funktionieren das Eigentliche, sondern das Verstehen des Funktionierens.

Es fehlt dieses verbindende Element. Das heißt, wenn man genauso viel Kraft aufgewendet hätte, die rechtsstaatlichen Institutionen zu schaffen, das hat man, aber man hat nicht dieselbe Kraft darauf verwendet, das Wirken dieser Institutionen auch zu erklären. Und in einer Demokratie, die stärker dadurch geprägt ist, dass sie medial vermittelt wird, fehlt uns dieses vermittelnde Element, also, im Grunde genommen dies Runtertransformieren dessen, was im Parlament passiert in einer populären Rundfunk- oder Fernsehsendung, damit mehr das mitkriegen. Denn in unseren Talkshows prallen die Interessen wieder aufeinander, ähnlich wie im Parlament. Da ist aber nicht einer, der die Bevölkerung da an die Hand nimmt und erklärt, also, schau mal, das könntest du so verstehen, du kannst es aber auch so verstehen, und wo nicht eine interessengeleitete Debatte ist, wie wir es oft in den Talkshows haben.

Deutschlandradio Kultur: Wir hatten, Herr Gauck, in den vergangenen vier Wochen zwei erfolgreiche Volksentscheide in Bayern und in Hamburg. Ist die direkte Demokratie auf dem Vormarsch?

Joachim Gauck: Wenn wir uns sorgen, dass die Bevölkerung des Gefühl hat, es passiert zu viel ohne sie, ohne ihre Mitwirkung, dann müssen wir darauf achten, dass wir mehr plebiszitäre Elemente haben. Nun haben wir das in Hamburg und – hochinteressanter Vorgang – eine der Bewegungen, die von Anfang an plebiszitäre Elemente gefordert hat, nämlich die Grünen, scheitert mit einem wichtigen Politikansatz durch eben ein Element, was sie eingefordert hat, durch Volksentscheid. Es ist auch so, wenn Sie die direkte Demokratie haben mit starker Beteiligung der Bevölkerung, dann haben Sie auch Grund sich zu ärgern. Das heißt, die offenen Gesellschaften sind nun nicht so, dass wir das Mittel haben, dass uns immer Konfliktfreiheit anböte. Aber ich plädiere für möglichst umfangreiche Mitwirkungsmöglichkeit, um dem Einzelnen das Gefühl zu geben, ihr werdet nicht nur alle vier Jahre gefragt, sondern ihr werdet zwischendurch auch einmal gefragt.

Und dann würde ich schon denken, dass wir das nicht unbedingt auf Bundesebene haben müssen. Dann würde im Grunde alles, was mit Entscheidung zusammenhängt, unendlich verzögert.

Deutschlandradio Kultur: Die Linkspartei hat ja schon vor der Bundesversammlung entschieden, Sie nicht zu unterstützen. So kam es ja dann auch. Haben Sie in den Jahren Ihrer Tätigkeit als Chef der Stasiunterlagenbehörde einen so nachhaltig negativen Eindruck hinterlassen, dass die Linke Sie bis heute ablehnt?

Joachim Gauck: Ich kann ja gut nachvollziehen, dass es in der Sache gebotene politische Differenzen gibt. Das, was mich erschreckt hat und zum Teil immer wieder erschreckt, ist, dass Unterstellungen, oft sogar wirklich absolut falsche Behauptungen über mich lanciert werden. Und es gibt ja dort am linken Rand auch Presseorgane, denen die Wahrheitsfindung nun nicht das allervornehmste Anliegen ist. Und da kannst du nach wie vor Dinge lesen, die völlig aus der Luft gegriffen sind. Und das ärgert einen natürlich. Also, wenn zum Beispiel behauptet wurde, dass ich immer wieder Dossiers herausgegeben habe, wenn der Wahlkampf anstand, oder irgend so was, das ist natürlich alles Unfug. Denn man hätte mich ja verklagen können. Und diejenigen, die es getan haben, sind dann abgeblitzt, einschließlich von Gregor Gysi. Aber all das sind Unterstellungen.

Und wenn sie tatsächlich Konflikte mit meiner Arbeit haben, dann könnten die eigentlich doch nur darin liegen, dass ich Diktatur Diktatur nenne und dass ich die Herrschaftstechnik der Diktatoren offen gelegt habe. Und ich stelle mir mal vor, ich wäre in einer kommunistischen Familie aufgewachsen und hätte immer an dieses System geglaubt. Ich wäre doch so was von enttäuscht und würde doch jetzt mit besonderem Nachdruck all das wissen wollen, was schief gelaufen ist. Und diesen besonderen Nachdruck und dieses selbstkritische Interesse an der Vergangenheit, das vermisse ich in großen Teilen dieses politischen Biotops. Ich weiß, dass es dort Aufklärer gibt. Ich habe mich mit Menschen auch getroffen und unterhalten aus diesem Milieu.

Aber die sind doch in einer bedauernswürdigen Lage, weil die Nostalgiker oder diese Altkommunisten aus dem Westen, die ja zum Teil eine so krude Vorstellung von der politischen Welt haben, dass sich die Reformer, denke ich, die müssten doch Tag und Nacht mit denen rumstreiten. Also, ich weiß nicht, wie das da gehen soll. Wie, was wollen die in ihr Programm mal reinschreiben? Da bin ich aber mal außerordentlich gespannt.

Deutschlandradio Kultur: Bedeutet denn das Verhalten der Linkspartei bei der Bundesversammlung denn auch das Ende rot-rot-grüner Zukunftsprojekte?

Joachim Gauck: Solange sich die Linkspartei nicht klar definiert, denke ich, ist es töricht, damit zu rechnen. Wie sollen denn die Bündnisgrünen und wie soll sich die sozialdemokratische Partei auch mit ihrer Freiheitstradition, wie sollen die sich zu einer Partei verhalten, die nun den Systemwechsel plakatiert. Ja, was wollen die denn für ein System? Und wieder würden wir jetzt nachschauen im Parteiprogramm, welches System wollen sie. Und was finden wir da?
Schwammige Aussagen. Die einen sind so antikapitalistisch, dass sie am liebsten eine neue Revolution wollen. Ja, und welches System soll dann bitteschön kommen? Gibt es irgendeins auf der Welt, das sie vorzeigen können?

So fragt sich der realistische Mensch dann: Ist denn außer Träumen irgendein Ansatz für eine - sagen wir mal - Politikgestaltung aus dem Geiste des europäischen Demokratieprojekts heraus? Gibt es das eindeutige Ja zum Projekt Europa? Gibt es die eindeutige Bereitschaft, die Menschenrechte zu verteidigen, auch wenn sie angegriffen werden? Oder gibt es das alles nicht? Und wenn das das nicht gibt, ja, wo soll denn seriöse Politik sich andocken?

Deutschlandradio Kultur: Sie waren einen Tag vor der Wahl zum Bundespräsidenten auch zu Besuch bei der Fraktion der Linken. Wie wurden Sie denn da empfangen? Wie war die Atmosphäre?

Joachim Gauck: Die Atmosphäre war lobenswert. Sie war fair. Dazu hat auch der Fraktionsvorsitzende Gysi erheblich beigetragen. Auch die Fragen, die gestellt wurden, waren völlig in Ordnung. Und es sind sich Leute begegnet mit zum Teil doch sehr unterschiedlichen Vorstellungen. Aber natürlich gibt es auch für, sagen ich mal, progressive Linke Elemente meines Denkens, mit denen sie eigentlich leben könnten. Also, ich halte zum Beispiel viel von freien Gewerkschaften, im Gegensatz zu denen, die früher in der SED waren, die überhaupt keine freien Gewerkschaften kannten und wollten. Aber ich halte viel davon.

Und dann halte ich viel davon, in einem Land zu leben, in dem es eine solidarische Gesellschaft gibt, in dem es Solidarität gibt nicht nur der Unteren untereinander, sondern auch von oben nach unten. Das ist für mich etwas anderes als nur ein Fürsorgestaat. Der ist für mich immer so bisschen paternalistisch. Dann gibt’s bei den Integrationsthemen manches, wo ich auch mit den Reformern in dieser Partei sehr gut leben könnte. Aber dann gibt’s eben andere Gebiete, wo wir völlig unterschiedlicher Auffassung sind.

Deutschlandradio Kultur: Zeigt denn die Ablehnung der Linksfraktion, Sie zu wählen, auch, dass es mit dem Zusammenwachsen von Ost und West immer noch hapert?

Joachim Gauck: Es wächst schon zusammen, was zusammengehört. Und die linken Nostalgiker aus dem Westen und die linken Nostalgiker aus dem Osten, die finden sich toll. Und die Aufklärer aus dem Osten und Westen, die haben auch einen kurzen Draht zueinander. Aber zwischen Ost und Ost und West und West gibt es auch noch erhebliche Unterschiede. Und ich empfinde ja die Differenz zwischen Ost und Ost größer als die zwischen Ost und West. Denn ich möchte nicht verwechselt werden mit jenen, die nicht genau wissen, ob die DDR eigentlich eine Diktatur war oder nicht. Also, mit denen möchte ich gerne nicht verwechselt werden und auch nicht in einem Atemzug genannt werden.

Und in diesem Biotop hat aber die PDS oder die Linkspartei ihre Anhängerschaft, und zwar massenhaft. Und deshalb erscheint es mir so, dass in Teilen der ostdeutschen Wählerschaft und in großen Teil der Mitgliedschaft der Linkspartei im Osten eben das wirkliche Ja zur offenen Gesellschaft noch gar nicht gefunden ist, sondern dass es noch so eine Zwischenposition gibt.
Man will die DDR ja nun einfach so auch nicht wiederhaben, aber solange man vom Systemwechsel redet, ist mir eben nicht klar, was wollen die – nicht doch am Schluss eine Räterepublik? Ich möchte die bitteschön nicht, sondern ich möchte dies, was Europa entwickelt hat als demokratische Gesellschaft und nicht eine Alternative, von der ich nirgendwo auf der Welt ein Funktionieren erblickt habe.

Also, insofern wünsche ich mir schon, dass die reformerische Verve, die es bei einigen Linken gibt, dazu führt, in unserem vorhandenen System die Elemente der Partizipation zu stärken und Bürger- und Menschenrechte zu stärken. Wenn sich linkes Denken so artikuliert, dann habe ich doch überhaupt kein Problem damit.

Aber wenn es uns einen Systemwechsel anrät, ohne auch nur annäherungsweise das alternative System beschreiben zu können, da ist doch die Skepsis angebracht.

Deutschlandradio Kultur: Aber sind wir 20 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht doch von der Einheit noch entfernt? Oder ist es überhaupt die richtige Frage, wenn man fragt? Wollen wir die Einheit - jedenfalls mit Blick auf die Himmelsrichtungen Ost-West? Wie sehen Sie das heute?

Joachim Gauck: Ja, das ist ein Thema, das mich seit 20 Jahren beschäftigt. Seit ich nicht mehr Bundesbeauftragter für die Stasiunterlagen bin, habe ich meinen Themenschwerpunkt verlagert auf dieses Gebiet hin. Und ich frage dauernd: Wie steht's denn um die innere Einheit der Deutschen? Ist es wünschenswert? Es ist wünschenswert. Wir müssen nicht gleichförmig sein, und wir können auch geprägt sein von unterschiedlichen Traditionen, aber was mir nicht gefällt, ist, dass es im Osten weniger Wähler gibt als im Westen, dass es im Osten weniger Menschen gibt, die die Freiheit als Hauptelement unserer Gesellschaft akzeptieren, als im Westen, dass es im Osten mehr Menschen gibt, prozentual mehr Menschen gibt, die rassistisch und fremdenfeindlich sind, und dass es im Osten weniger Menschen gibt, die sich in Bürgervereinen und Bürgerinitiativen miteinander verbünden, um das Ihrige als Bürger zu tun.
Und wenn man sich nun fragt: Woher kommt das? Also, es ist statistisch belegbar, dass es so ist. Und wenn man nun den Stammtisch fragt, woher es kommt, na ja, der weiß das. Der Stammtisch im Westen weiß, der Ossi ist eben so, ein bisschen undankbar und bisschen arbeitsscheu. Und wenn du den Ossistammtisch fragst, dann weißt du, der Westen ist anders, weil er eben arrogant ist und egoistisch und ego man.

Wenn du aber genauer hinschaust, dann kann man Veränderungen der Mentalität erkennen. Aber Mentalität verändert sich langsamer. Das heißt, eine Gesellschaft, die über 40 Jahre lang in der Schule keine Klassensprecher gewählt hat, sondern FDJ-Sekretäre, erzeugt andere Schüler als die, die Klassensprecher wählt und die die Schülerzeitungen schreibt statt Wandzeitungen. Und in einem Betrieb, in dem es keinen richtigen Betriebsrat gibt oder keine richtige Gewerkschaft, sondern diese Scheingewerkschaften des Kommunismus, ist es anders.

So, nun übertragen Sie das alles mal in Lebensprozesse, die über zwei Generationen gehen. Das heißt, zwei Generationen merkst du, wenn du dich anpasst und vorsichtig bist, dann bist du sicher. Aber wenn du eigenständig bist und eigenverantwortlich, dann lebst du gefährlich. Und dies steckt in den großen Bevölkerungskörpern der postdiktatorischen Gesellschaften überall auf der Welt, nicht nur in Ostdeutschland. Und daher gibt es so einen Unterschied der politischen Kultur - nicht, weil die einen besser sind als die anderen, sondern weil die einen andere Trainingsmöglichkeiten hatten als die anderen. Und das muss man einfach erklären.

Und das versuche ich, wenn ich im Westen bin, immer wieder zu erklären. Wenn ich dann in Freiburg oder in Emden bin, sage ich: Ja und? Wenn Sie nun in Freiberg in Sachsen gelebt hätten, meinen Sie denn, dass es mit Ihnen hier anders gewesen wäre? Oder ist nicht, was hier in der ersten Reihe sitzt, alles SED gewesen früher? Und so ist es dann. Und wenn die Leute ehrlich sind, müssen sie es natürlich zugeben.

Das heißt, man spürt dann, dass es nicht irgendwie eine Anhänglichkeit an den Kommunismus ist, sondern dass es längere Trainingsmöglichkeiten sind, die mir erlaubt haben, als Klassensprecherin, als Schülersprecher, als Zeitungsredakteur, als Gewerkschafter eine eigenständige Form der Bürgerexistenz zu leben. Und dadurch sind die einfach ein bisschen weiter. – Besser sind sie dadurch auch nicht, aber sie hatten halt andere Möglichkeiten. Und das ändert sich jetzt mit der Zeit.

Deutschlandradio Kultur: Herr Gauck, wir danken Ihnen für das Gespräch.