"Das Volk ist vielleicht ambitionierter als wir glauben"

Joachim Lux im Gespräch mit Susanne Führer · 08.11.2011
Es gebe eine Tendenz, dass Bürger sich mehr Beteiligung wünschen, sagt Joachim Lux, Spielleiter des Thalia Theaters. Diesen Wunsch erfüllt das Theater seinem Publikum. Lux sieht darin einen Versuch, ein Bewusstsein für das Spannungsverhältnis aus Kunst, Quote und Elite zu entwickeln.
Susanne Führer: Demokratie und Kunst – geht das zusammen? Die bisherigen Erfahrungen legten meist die Antwort nahe: Nein. Das Thalia-Theater in Hamburg startet nun einen neuen Anlauf. Die Hälfte des Spielplans für die kommende Spielzeit darf das Publikum auswählen. Auf der Homepage des Theaters heißt es: Sie bestimmen einfach selbst, was gespielt wird. Oberster Spielleiter des Thalia ist Intendant Joachim Lux. Guten Tag, Herr Lux!

Joachim Lux: Guten Tag!

Führer: Wie soll denn das gehen? Erzählen Sie mal ganz praktisch. Das Publikum bestimmt den Spielplan?

Lux: Also das Publikum darf wählen, das bedeutet, dass man per E-Mail oder per Postkarte ein Stück nennen kann. Man muss allerdings seine Adresse hinterlegen, also es ist keine anonyme Wahl. Dafür wird man dann möglicherweise belohnt durch ein Schnupperabo oder in der Spitze durch eine Zeitreise in die Theaterstadt Wien.

Was ausgeschlossen ist, sind die Stücke oder Projekte, die in den letzten fünf Jahren auf den Spielplänen standen, und diese findet man ebenfalls auf der Website des Thalia-Theaters. Gewählt werden kann bis zum 16. Dezember, und am 17. Dezember machen wir dann etwas wie eine öffentliche, notariell beglaubigte Auszählung und stellen dann fest, was das Publikum tatsächlich sich wünscht.

Führer: Was heißt denn das, Publikum, Herr Lux? Kann da jeder mitmachen, oder muss ich nachweisen, dass ich in den letzten fünf Jahren mindestens einmal im Thalia-Theater war?

Lux: Ja, man könnte das immer weiter spielen. Also derjenige, der hundert mal im Thalia-Theater war, darf hundert Vorschläge machen, der, der einmal drin war nur einen, und der, der nie drin war, gar keinen, …

Führer: Das machen Sie aber nicht?

Lux: Außerdem mit dem Einwohnermeldeamt seine Ansässigkeit in Hamburg beweisen, dass man auch tatsächlich ein potentieller Nutzer des Thalia-Theaters ist, wodurch die Bürger in Augsburg ausgeschlossen werden, und so weiter, und so fort – das machen wir alles nicht, sondern es kann einfach jeder wählen und kann das eben wie gesagt per E-Mail machen, per Postkarte oder eben auch per Wahlurne bei uns im Theater.

Führer: Und man muss nicht Hamburger sein?

Lux: Man muss nicht Hamburger sein, Sie dürfen auch wählen.

Führer: Und ich darf alle Stücke auswählen? Also nur klassische Theaterstücke, oder?

Lux: Nein, Sie können sagen: Ich habe viel zu wenig Romandramatisierungen in letzter Zeit gesehen und ich ersehne mir …

Führer: "Harry Potter".

Lux: … "Harry Potter" oder …

Führer: Teil sieben.

Lux: … Teil sieben, genau, oder Dostojewski oder der Film sowieso …

Führer: Und was machen Sie dann, Herr Lux? Wenn jetzt alle, die da mitmachen, sagen, ich will "Harry Potter", Teil sieben?

Lux: Dann sprechen wir mit unseren Regisseuren – nein, dann sprechen wir nicht mit unseren Regisseuren. Dann sprechen wir erst mal mit den Rechteabteilungen, ob wir das überhaupt dürfen. "Harry Potter" zum Beispiel ist meines Wissens seit Jahren gesperrt für die Bühnen, da hat es ja schon Versuche gegeben, das zu machen. Aber wenn wir die Rechte kriegen sollten, dann sprechen wir mit unseren Regisseuren, die auch über diesen ganzen Vorgang informiert sind, und suchen da nach einer künstlerischen Lösung.

Führer: Und wenn Sie jetzt nur solche Vorschläge – Also sagen wir mal: Erster Platz "Harry Potter", zweiter "Vom Winde verweht", und dritter "Im weißen Rössl"?

Lux: Genau, dann spielen wir auf den Positionen, die wir noch frei haben, spielen wir dann "Heiner Müllers Tagebücher" oder neue Stücke oder Dinge, die wir für wichtig halten. Also …

Führer: Nein, mal ganz im Ernst, Herr Lux, ich meine, warum machen Sie das? Geht dem Thalia das Publikum aus? Es muss ja irgendwie einen Grund geben. Es ist ja nicht aus Daffke, oder?

Lux: Nein, ist nicht aus Daffke. Das Publikum geht uns nicht aus, sondern uns geht es im Gegenteil mit dem Publikum ziemlich gut. Nein, das hat was mit der Stadttheaterdebatte zu tun, also es ist ja in den letzten Jahren angesichts finanzieller Engpässe bei den öffentlichen Haushalten – wird auch immer wieder thematisiert: Erstens, warum subventionieren wir Theater überhaupt? Zweitens, produziert das Theater nicht an den Bedürfnissen des Publikums vorbei? Drittens, was ist denn der Sinn von Subventionen? Ist der Sinn von Subventionen der, dass wir sozusagen am Publikum vorbei machen können, was wir wollen, oder machen wir dann auch nur das, was jedes Boulevard- oder Musical-Theater macht, oder wie ist das Spannungsverhältnis zwischen dem, was das sogenannte oder wirkliche Volk will, und was der künstlerische Auftrag ist?

Und es ist ein Versuch, in diesem Spannungsverhältnis ein Bewusstsein herzustellen, das sich mit Kunst, Quote und Elite, mit diesen drei Faktoren beschäftigt, wie das zueinander austariert werden sollte. Meine Erwartung ist im Übrigen auch gar nicht die, dass jetzt nur noch "Kiss Me, Kate" und "Harry Potter" gewählt wird, sondern ich kann mir durchaus vorstellen, dass oben dann plötzlich "König Lear" oder so was steht, weil unsere Erfahrung ist eigentlich letztendlich die, dass das, was wir machen, in etwa jedenfalls den tatsächlichen Bedürfnissen des Publikums entspricht.

Wir haben mal eine ähnliche Aktion gemacht vor zwei Jahren, wo wir einen sogenannten Publikumsgipfel gemacht haben und gesagt haben: Jeder kann umsonst ins Theater. Zahlen Sie so viel, wie sie glauben, das es wert ist, hier heute ins Theater zu gehen. Das war sozusagen die Aktion: Wie viel ist Kunst uns wert? Und da war die Erfahrung die, dass die Leute sich an den wirklich hohen und real existierenden Eintrittspreisen orientiert haben und wir auch auf die Einnahmen gekommen sind, die wir brauchen.

Führer: Deutschlandradio Kultur, ich spreche mit Joachim Lux, dem Intendant des Thalia-Theaters im Hamburg. Herr Lux, das ist ja ein schwieriges Feld, dieses Kunst und Quote und Elite, was Sie da angesprochen haben. Aber ist es denn tatsächlich die Aufgabe eines subventionierten Theaters, das zu bieten, was das Publikum erwartet hat, oder hat nicht Kunst gerade die Aufgabe, mir das zu bieten, von dem ich gar nicht wusste, dass es das gibt, was mich aber dann trotzdem bereichert, im Idealfall beglückt?

Lux: Ja, das ist wie gesagt, das ist ein Spannungsverhältnis. Denn wenn wir nur das liefern, was uns selber interessiert, ohne Rücksicht auf Publikum, dann gibt es bei Theater einen Unterschied zu, sagen wir, Malerei oder Musikkomposition. Denn ein Bild kann unentdeckt 100 Jahre im Keller stehen, und plötzlich sagt man, das ist der neue van Gogh – das Bild gibt es immer noch. Beim Theater ist das nicht so, sondern der Theaterabend lebt überhaupt nur, existiert überhaupt nur, weil Zuschauer unten sitzen. Wenn Zuschauer nicht unten sitzen, dann existiert der Theaterabend in Wahrheit nicht.

Führer: Ja, aber so ein Theater hat doch auch ein Renommee und einen Ruf. Und wenn ich weiß, das Thalia-Theater bringt jetzt ein Stück – was weiß ich, "Schneegestöber" von Mirko Müller, den noch kein Mensch kennt –, kenne ich nicht, werde ich sagen, aber das Thalia bringt es, das gucke ich mir an. Das erwarte ich doch von so einem großen Haus wie Ihres.

Lux: Ja, machen wir ja auch, und werden wir auch weiter machen. Wir haben ja auch nicht den Spielplan zur Gänze quasi dem Populismus zum Fraß vorgeworfen, sondern wir haben ein bestimmtes Verhältnis definiert, wo wir sagen: Nein, ein Teil dessen, was wir tun oder sogar ein erheblicher Teil dessen, was wir tun, den bestimmen wir. Ich habe jetzt gerade hier geguckt auf der Website. Da steht zum Beispiel drauf bei uns, von Robert Harris "Angst" wünscht sich jemand, oder "Gesäubert" von Sarah Kane oder Andy Warhols "Trash". Also das Volk ist vielleicht ambitionierter als wir glauben. Ich glaube nicht, dass die "Bild"-Zeitung das Ergebnis sein wird.

Führer: Das ist auch gar nicht mal so der Punkt, dass es jetzt nur bei "Harry Potter" rauskäme, sondern eben, dass man die Erwartungen erfüllt, die schon da sind. Also auf Ihrer Homepage – Sie haben die gerade ins Gespräch gebracht, Herr Lux – heißt es: Das Thalia-Theater ist, wie Sie wissen, nicht nur ein Kunstinstitut, sondern auch ein Dienstleistungsunternehmen. Und irgendwie wird mir da so ein bisschen grubbelig, muss ich sagen, weil ein Dienstleister ja immer die Aufgabe hat, die Kundenwünsche zu erfüllen. Ist das wirklich denn die Aufgabe eines Kunstinstitutes, wie das Theater eines ist?

Lux: Also in dem Spannungsfeld von Kunst, Quote und Elite, von Innovation und möglicher Rezeption ist es ein Aspekt, sicher, auch der, ein Dienstleistungsunternehmen zu sein, wie übrigens bei jedem Symphonie-Orchester, bei jedem Museum, bei allen öffentlichen Institutionen, selbstverständlich. Also nur zu sagen, wir seien reine Kunstinstitute, das kann man leicht postulieren, das ist aber in Wahrheit verlogen.

Führer: Und der Spezialpreis, den Sie ausloben, nämlich die Möglichkeit, bei einer der vier ausgewählten Inszenierungen selbst mitzuspielen? Das, finde ich, klingt doch aber ein bisschen sehr nach Samstagabend-Unterhaltungsshow im Fernsehen, oder?

Lux: Ja, das ist ein bisschen lustig. Aber das ist ja auch erlaubt.

Führer: Ist das jetzt eine einmalige Aktion, oder haben Sie da eine Wiederholung geplant?

Lux: Wissen wir nicht, also wir machen das, um für uns selber was rauszufinden, was das eigentlich bedeutet. Das ist ein Experiment, es ist ein Versuch. Das heißt ja nicht, dass man jetzt in Permanenz alles per Volksabstimmung zur Disposition stellt, aber Sie haben es vorhin in der Anmoderation schon gesagt, wir leben ja in einem Verhältnis zu unserer Demokratie, das in den letzten Jahren öfters problematisch geworden ist, wo ja viele – also insbesondere die Grünen basisdemokratische Elemente viel deutlicher verankert haben möchten. Warum? Um die Partizipation der Bürger an dem, was sie tun, zu erhöhen. Das ist ja eine Grundtendenz in unserer Gesellschaft, auch übrigens in den sozialen Ausformulierungen der jeweiligen Bezirke und Gemeinden, da gibt es ja auch immer Tendenzen, wo man sagt: So, wir wollen jetzt hier – weiß ich nicht – eine Treppe bauen, oder wir müssen da am Kirchplatz drei Bäume hinpflanzen. Es gibt einfach diese Grundtendenz, dass die Bürger wieder mehr …

Führer: … wieder mehr Demokratie …

Lux: … mehr Demokratie wollen oder mehr Beteiligung jedenfalls. Und das kann in der Tat sein, also dass plötzlich so was entsteht, wo man sagt: Jetzt haben die hier – malen wir den Teufel an die Wand – "Harry Potter", "Kiss me, Kate" und noch irgendwas, "Raumschiff Enterprise", gewählt, …

Führer: Ja?

Lux: … dass ich dann sage: Ja, das stimmt zwar, dass wir das wollten, aber ganz so ernst haben wir es ja dann doch nicht gemeint. Das kann passieren. Das ist aber genau die Frage.

Führer: Woran würden Sie denn den Erfolg dieser Aktion messen? Also jetzt an der Anzahl der Teilnehmer oder an den Zuschauerzahlen später?

Lux: Nein, nein. Nicht die Zuschauerzahlen später, weil das ist ja keine Platzausnutzungssteigerungsstrategie, sondern eigentlich, für mich ist das Ergebnis zwar interessant, aber gar nicht so wichtig. Für mich ist viel wichtiger, ob sich die Menschen daran beteiligen. Also wenn jetzt am Ende, ich sage jetzt mal, nur 80 Leute überhaupt eine Karte eingeworfen haben, dann ist das eigentlich die Niederlage. Dann hat das sogenannte Volk oder diejenigen, die sich für Theater interessieren, entschieden: Ist uns scheißegal, macht doch, was ihr wollt. Also das wäre, finde ich, die wahre Niederlage.

Führer: Sehr defätistische Interpretation, Herr Lux. Könnte auch heißen: Ihr macht das prima ohne mich!

Lux: Kann das auch heißen, genau, das wissen wir hinterher.

Führer: Joachim Lux war das, der Intendant des Thalia-Theaters in Hamburg. Danke fürs Gespräch, Herr Lux! Viel Erfolg!

Lux: Gerne, danke!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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