Das Unerhörte im Gewöhnlichen fixieren

Von Arno Orzessek · 03.05.2010
Tom Hanks macht es in "Terminal" vor. Er lebt am Flughafen. Der 1959 in Zürich geborene und in London lebende Schriftsteller und Journalist Alain de Botton tut es ihm gleich und dokumentiert in "Airport", was er während eines einwöchigen Aufenthalts in Heathrow erlebt hat.
Schwer zu sagen, welche Wirkung Alain de Bottons "Airport" auf Leser hat, die niemals als elfjährige Jungs auf der Besucherterrasse eines Großflughafens den Betrieb der Riesenmaschinen bestaunt und Technik-Faszination und Fernweh so stark empfunden haben wie die erste Liebe. Allen jedoch, die jemals solche Elfjährigen waren, wird Airport ein erlesenes, von Wehmut intensiviertes Vergnügen bereiten. Dabei führt der Gedankenflug, zu dem das Buch die Bordkarte ist, nicht in geographische Ferne, sondern über die Landschaften unseres Bewusstseins.

"Airport" ist eine Auftragsarbeit. De Botton beschreibt die Eindrücke, die er sich als erster Wirter-in-Residence des Londoner Flughafens Heathrow gemacht hat. Ausgestattet mit einem Arbeitsplatz mitten im gigantischen Terminal 5, einem Zimmer im nahen Sofitel-Hotel und der Lizenz zu unbeschränkter Neugierde, tat de Botton eine Woche lang, was er am besten kann: Angeleitet vom Konkreten, selbst vom Banalen, aber mit der abendländischen Philosophie im Hintergrund den Alltag moderner Menschen in der technisierten Umwebt ergründen. Ernst, witzig, weise, voller Beobachtungen und Reflexionen oft so schwebend leicht wie Jets im Landeanflug, die in der Luft zu stehen scheinen.

De Bolton beschreibt die spektakuläre Architektur und die noble Business Class-Lounge, die ihn zum Lob des Reichtums anregt. Er beobachtet Liebende beim Abschied; erstrahlende Ankömmlinge, wenn sie bemerken, dass sie erwartet werden; ausrastende Fluggäste, die nicht mehr in die Maschine dürfen, welche noch zwanzig Minuten vor ihrer Nase stehen wird. Er spricht mit dem Schuhputzer Dudley; der Dame vom Begleitservice, die in der Nacht bei einem Mann liegen soll, der zur Behandlung seiner letalen Krebskrankheit einschwebt; mit Sicherheitsleuten, die jederzeit auf den Vorfall gefasst sind, "der in ihrem Metier weltweit vielleicht nur ein einziges Mal in einem Jahrzehnt vorkommt und dann vermutlich in Larnaka oder Baku."

De Botton erwartet vom Flughafen, "dass es auf ihm wie an jedem anderen Tag des Jahres zugehe". Das enttäuscht die Sensationslüsternen im Terminal, doch es erlaubt de Botton, das Unerhörte im Gewöhnlichen zu fixieren. Bei seinen Imaginationen zur Ferienreise einer Familie unterstellt er dem Vater, der nach viel Planung und Vorfreude den Koffer aufs Band hievt, "eine unerwartete und beunruhigende Einsicht: Dass er nämlich sich selbst mit in den Urlaub nehmen würde." Der heulenden Liebenden würde er gern erklären, dass sie gerade an einem der "Höhepunkte ihres Lebens" steht, betrauert sie doch den Abschied von einer Person, ohne die sie nicht zu existieren können glaubt – eine beneidenswerte Erfahrung.

Der Beobachtungsgabe de Bottons entspricht sein sprachliches Können. In Airport funkeln, dem Milieu angemessen, nicht die Adjektive, sondern die Substantive. Angesichts gewaltiger Boeing 747’s staunt de Botton, dass sich "solche Leviathane […] durch die Luft bewegen können." Bitte schön, nicht Jumbojets – Leviathane! Der rhetorische Schub bringt das Flug-Zeug gleich mal auf philosophische Dienstgipfelhöhe.

Der Umschlagtext lügt ausnahmsweise nicht: "Airport", ausgestattet mit tollen Fotos von Richard Baker, entwickelt "das rasende Standbild unserer Lebens" – oder jedenfalls viele gelungene Schnappschüsse. Dem widersprechen kann nur, wer niemals ein elfjähriger Airportbesucher mit großen Sehnsuchtsaugen war.

Besprochen von Arno Orzessek

Alain de Botton: Airport. Eine Woche in Heathrow"
Aus dem Englischen von Bernhard Robben, Fotografien von Richard Baker, S. Fischer, Frankfurt am Main 2010, 128 Seiten, 16,95 Euro