Das ultimative Feindbild

21.04.2011
Die hinter der britischen Propagandakampagne stehende Lobby verfolgte das Ziel, Englands Führungsrolle zu behaupten. Der Historiker Andreas Rose untersucht, wie das wilhelminische Deutschland fälschlicherweise zum Angstgegner stilisiert wurde.
Auch in Deutschland geht die geschichtsbewusste Öffentlichkeit heute davon aus, dass Kaiser Wilhelms aggressive Flottenaufrüstung letztendlich zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte. Das Problem dieser Wahrnehmung ist aber, wie Andreas Roses intensive Forschungen in bislang vernachlässigten englischen Archiven erstmals belegen, dass sich diese Sicht der Dinge in den politischen und militärgeschichtlichen englischen Quellen nicht dingfest machen lässt. Erstaunlicherweise zog die Geschichtsforschung über diese Thematik ihre Erkenntnisse bisher aus der blauäugig übernommenen deutschlandfeindlichen britischen Propagandapresse, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Schwelle des Ersten Weltkriegs mit relativ großem Erfolg bemüht war, die britische Politik und die breite Öffentlichkeit auf das ultimative Feindbild Deutschland einzuschwören.

Die hinter dieser Propagandakampagne stehende Lobby verfolgte das Ziel, im zunehmend sozialdarwinistisch gesehenen Überlebenskampf der Nationen Englands Führungsrolle auch im 20. Jahrhundert zu behaupten und auszubauen. Die Funktion des deutschen Feindbildes war es, vom Parlament die geforderten Etatmittel für die verstärkte Aufrüstung des Heeres und der Marine zugewiesen zu bekommen. Roses Ansatz ist es, dem Leser klar zu machen, wie und mit welchen Mitteln die antideutschen Lobbyisten und Propagandisten vorgingen. Tatkräftig unterstützt wurden sie nicht nur durch die Massenpresse, sondern auch durch aktive Netzwerker in seriösen Presseorganen. Flankiert wurde die Pressearbeit durch populäre Trivialliteratur über sensationelle Agenten- und Invasionsstorys, mit denen dem Publikum unablässig vorgegaukelt wurde, England werde in Kürze von einer deutschen Invasion heimgesucht.

Global gesehen war die Vormachtsstellung des imperialen England im Nahen, Mittleren und Fernen Osten allerdings nicht durch Deutschland bedroht, sondern durch Russlands Expansionsgelüste. Objektiv war Russland Englands Angstgegner, der besonders durch Zugeständnisse auf dem Balkan eingebunden werden sollte - und auch wurde - in eine Allianz gegen Deutschland. Fakt ist, wie Rose eindrucksvoll darlegt, dass das Kaiserreich noch kein einziges Kriegsschiff der Dreadnought-Klasse besaß, auch keine U-Boote, als die antideutsche Propaganda bereits auf vollen Touren lief.

Rose blendet in seiner überaus detailreichen Studie die deutsche Politik fast völlig aus. Gelegentlich verweist er auf das eher operettenhaft wirkende Säbelgerassel des Kaisers, aber dass Deutschland diplomatisch gravierende Fehler gemacht hat, dass es in seiner morbid-patriotischen Fin-de-Sciècle-Stimmung nach einem Armageddon-Waffengang dürstete, blendet er leider aus. So kann der Eindruck entstehen, der arglose deutsche Michel sei vom perfiden Albion in den Krieg gezwungen worden.

Leider ist Roses Studie, die eine klaffende Forschungslücke schließt, nicht sorgfältig genug lektoriert. Es gibt viele unnötige Wiederholungen, oft ist der Autor zu nah an seinem Thema und setzt beim Leser nicht vorhandenes Detailwissen voraus. Durch die relativ häufigen Druckfehler und stilistischen Ungetüme – auch im englischen Abstract – wird die Lektüre streckenweise strapaziös.

Besprochen von Hans-Jörg Modlmayr

Andreas Rose: Zwischen Empire und Kontinent
Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg
Oldenbourg Verlag, München 2011
650 Seiten, 69,80 Euro
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